Im Zeitalter des Populismus ein Gespräch mit Politikwissenschaftler Michael Bröning über die Sehnsucht der Menschen nach der Zugehörigkeit zu einer Nation und die Gefahren eines Hurra-Patriotismus.
Der Begriff „Nation“ kommt bei vielen Menschen nicht gut an. Warum sind die Menschen, wie bei der Fußball-WM, stolz auf ihre Nation?
MICHAEL BRÖNING: Offenbar bedient das Bekenntnis zur Nation ein tiefes menschliches Bedürfnis nach einer besonderen Art von gemeinschaftlicher Identität. Das Ja gerade zur Nation entspricht dabei dem Verlangen nach einem kollektiven Wir, das traditionelle Identitäten wie Familie, Stämme oder auch vormoderne dynastische Loyalitäten überwindet. Bezeichnend ist ja, dass das Bekenntnis zur Nation ein globales Phänomen darstellt. Weltweit durchgeführte Umfragen wie etwa die World Values Survey belegen, dass mehr als 85 Prozent der Weltbevölkerung sehr oder ziemlich stolz auf die Zugehörigkeit zu ihrer jeweiligen Nation sind. Die WM liefert nur die Bilder, die diese Tatsache illustrieren.
Ist der Nationalstaat mittlerweile obsolet, wie viele meinen?
BRÖNING: Das kommt ganz darauf an, wen man fragt. In manch einem politischen Salon und auch in so manch einer Talkshow hat sich der Abgesang auf den Nationalstaat ja zu so etwas wie dem Soundtrack der öffentlichen Debatte entwickelt. Da gilt der Nationalstaat immer wieder als überkommen, überholt und angesichts der bestehenden globalen Herausforderungen gewissermaßen als zahnloser Dinosaurier. Die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten sieht das aber ganz anders. Das belegt nicht zuletzt die wachsende Zahl der Nationalstaaten. Im Jahr 1980 gab es 177, im Jahr 2018 schon 202 Staaten.
Sind in diesem Zusammenhang auch die vereinigten Staaten von Europa aus der Mode?
BRÖNING: Auch wenn es paradox klingt: Das passt hervorragend zusammen. Nationen und Europa stehen nämlich in keinem Widerspruch, sondern bedingen sich gegenseitig. Identität ist niemals monolithisch, sondern kann auf ganz verschiedenen Ebenen verortet werden. Deswegen spricht nichts dagegen, sich etwa als Däne, Niederländer oder Schwede und zugleich als überzeugter Europäer zu fühlen.
Gilt das auch für Deutschland?
BRÖNING: Mir scheint, lediglich in Deutschland wird das bisweilen als problematisch wahrgenommen. Vielleicht auch, weil für manch einen besonders überzeugten Europäer in Deutschland die europäische Identität einen willkommenen Ausweg aus der schwierigen eigenen nationalen Identität weist? Ironischerweise ist aber gerade dann der Abgesang auf nationale Identität eine ziemlich nationale Angelegenheit.
Auch wenn die Bekenntnis zu einer Nation schwierig ist. Wo sehen sie die „Vorteile“ eines Nationalstaates?
BRÖNING: Nicht zuletzt im sozialen Wohlfahrtstaat. Denn der ist zumindest auch ein Kind der Nation. Weltweit existieren ja durchaus Nationalstaaten, die keine Wohlfahrtsstaaten sind, doch es finden sich keine Beispiele für einen Wohlfahrtsstaat, der sich nicht auch auf die eine oder andere Art als Nationalstaat begreift. Nation und Solidarität, das gehört zusammen. Es kommt deshalb darauf an, wie man die Nation definiert: Als weltoffenes Gemeinschaftsprojekt oder als ethnische Wagenburg. Letztere wäre natürlich ein echter Rückschritt.
Fühlen sich die Menschen in einem Nationalstaat geborgener?
BRÖNING: Ich denke schon. Im Gegensatz zur Gemeinde oder zu globalen Institutionen ist letztlich nur der Staat grundsätzlich für alles und jeden zuständig und gewissermaßen für jede Lebenslage letztverantwortlich. Auch in Anbetracht einer rasanten Globalisierung, die zunehmend nicht als vielversprechend, sondern als bedrohlich wahrgenommen wird, ist das wichtig. Viele Menschen sehnen sich nach einer Zeit der Übersichtlichkeit und der Kontrolle zurück.
Kann ein Nationalstaat die soziale Frage lösen?
BRÖNING: Auf jeden Fall steht der Nationalstaat in der Pole Position, um eine Lösung zu versuchen. Faktisch hat umfassende Solidarität über Familienverbände hinaus ja bislang nur ein einziges institutionelles Zuhause: den Nationalstaat. Auf nationaler Ebene aber ist ein Spitzensteuersatz von über 40 Prozent für die allermeisten Staatsbürger kein Problem. Das ist breit akzeptiert und wer nicht mitmacht, bekommt Probleme mit der Steuerfahndung. Tiefgreifende und lang anhaltende Solidarität kann augenscheinlich am ehesten vor dem Hintergrund einer wahrgenommenen nationalen Gemeinschaftlichkeit sichergestellt werden.
Was hemmt dann die Deutschen, sich zu ihrer Nation zu bekennen?
BRÖNING: Sicher ist die Zeit des Hurra-Patriotismus zumindest für die breite Mehrheit der Bundesbürger vorbei. Und klar ist auch, dass der bestehende deutsche Patriotismus seine Unschuld in den Verbrechen des Nationalsozialismus ein für alle Mal eingebüßt hat. Aber zugleich fühlen sich Umfragen zufolge gerade mal drei Prozent der Deutschen rein als Europäer. In einer Zeit, in der sich Gemeinschaften zunehmend ideologisch polarisieren, schadet es nichts, auch das verbindende Wir hin und wieder zu betonen. Hier sind nicht zuletzt auch die politisch fortschrittlichen Kräfte in der Pflicht. Wenn sie sich einem aufgeklärten und weltoffenen Patriotismus verweigern, überlassen sie dieses wichtige Feld den politischen Extremen.
Kann der Nationalstaat ein Bollwerk gegen die Globalisierung sein?
BRÖNING: Durchaus – allerdings nicht im Alleingang, sondern im Verbund mit anderen und natürlich auch in der Kooperation in supranationalen Gebilden wie der EU. Es geht aber nicht darum, die Globalisierung jetzt durch ein Bollwerk zu stoppen, sondern eher darum, eine Art Re-Regulierung hinzubekommen. Die Globalisierung hat Hunderte von Millionen von Menschen aus der Armut befreit – das sollte man nicht vergessen. Angesichts der Vielzahl der Herausforderungen, der wir uns auf globaler Ebene entgegensehen, dürfte sich der Nationalstaat als unser wirksamstes politisches Instrument erweisen. Nicht zuletzt, wer starke Vereinte Nationen will, kommt an starken Staaten nicht vorbei. mei
Leseempfehlung
Michael Bröning: Lob der Nation – Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen, Verlag J.H. Dietz Nachf. 2018, 112 Seiten, 12,90 Euro