Warum Karl Marx wieder im Fokus steht

Die Lehren von Karl Marx stehen in den Krisenzeiten des Kapitalismus wieder vermehrt im Fokus. Ein Gespräch mit dem Marx-Biografen und Bestseller-Autor, Jürgen Neffe,  über die Aktualität der Marx’schen Theorie und den Untergang des kapitalistischen Wirtschaftssystems.

 

Herr Neffe, in Kürze steht der 200. Geburtstag von Karl Marx an. Was macht den großen Kapitalismuskritiker heute wieder populär?

 

JÜRGEN NEFFE: Der globalisierte Kapitalismus ist heute so, wie ihn Marx vor 150 Jahren an die Wand gemalt hat. Seine visionären Schriften – vom Früh- bis zum Spätwerk, von Entfremdung bis zum Warenfetisch – lassen ihn wie einen Propheten erscheinen – etwas, was er aber nie sein wollte.

 

Was wollte Marx?

 

NEFFE: Vielmehr basiert seine Theorie mit ihrer Vorhersagekraft auf seinen tiefgehenden philosophischen Analysen, zum Beispiel des Doppelcharakters der Arbeit, die immer zugleich einen Gebrauchs- und einen Tauschwert schafft, die nicht aufeinander beziehbar sind. Von Marx stammt auch die immer noch aktuelle Unterscheidung zwischen Wert haben und Wert sein: Geld etwa hat keinen Wert aber ist etwas wert (soviel wie draufsteht), Luft hat einen unersetzlichen Wert (für das Überleben), ist aber nichts wert in dem Sinn, dass ich sie gegen nichts eintauschen kann.

 

Und was ist mit dem Wert der Arbeit?

 

NEFFE: Arbeit, so Marx, ist die einzige Quelle von Wert, und wenn wir nun im Zuge der Industrie 4.0 mit Big Data und Robotern daran gehen, sie nach und nach abzuschaffen, dann müssen wir das ganze System neu denken, um es zu retten – etwa mit Maschinensteuer oder Grundeinkommen. All das kommt in der Marxschen Gedankenwelt direkt oder indirekt vor – ebenso wie die höchst aktuelle Frage, ob wir leben, um zu arbeiten, oder arbeiten, um zu leben.

 

Gibt es denn heute noch politische Bewegungen, die sich auf Marx berufen?

 

NEFFE: Ja natürlich. Alle „linken“ Bewegungen gehen ursprünglich auf Marx zurück. Dass sich ausgerechnet die SPD von ihm distanziert hat, 1959 im Godesberger Programm, was aber auch den Zeitumständen mit zwei deutschen Staaten geschuldet war, könnte ihr jetzt zum Nachteil gereichen. Jedenfalls haben „radikalere“ Linke, die sich nicht in der Form von Marx und seinen Gedanken distanzieren, ich denke an Leute wie Sanders, Corbyn oder Mélenchon, mehr Zulauf.

 

Aber wie sieht es denn in den Ländern aus, in denen Marx „regiert“?

 

NEFFE: Aber wenn ich mir etwa das „kommunistische“ China ansehe, das sich auf Marx beruft, dann gehe ich eher davon aus, dass ihm das nicht gefallen hätte. Einen Kommunismus, wie er ihm vorgeschwebt hat, wo jeder nach seinen Fähigkeit leistet und jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben wird, wo die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit aller ist, und nicht umgekehrt, einen solchen Kommunismus hat die Welt noch nicht gesehen.

 

Ist denn der Kapitalismus dann auf alle Zeiten das geringere Übel?

 

NEFFE: Marx hat den Kapitalismus als erster in einer Weise durchschaut, die heute noch gültig ist – besser würde man sagen: Heute noch mehr als zu seiner Zeit. Dieser Moloch der Moderne, wie ich ihn nenne, ist ein von Menschen geschaffenes System, über das die Menschen die Kontrolle verloren haben, das uns beherrscht, anstatt dass wir es beherrschen. Marx spricht von einem „automatischen Subjekt“, das uns alle zu Marionetten macht. Phänomene wie Ausbeutung oder Kapital-Akkumulation lassen sich bis heute bestens mit Marx’ Grundlagen erklären. Allerdings hat er die Lernfähigkeit des Kapitalismus unterschätzt.

 

Erklären Sie das!

 

NEFFE: Wäre der Kapitalismus wie zu seinen Zeiten geblieben, also etwa ohne Tarifverträge oder Sozialleistungen, hätte das System wohl nicht überlebt. Viel kritisiert wird Marx für seine „Verelendungstheorie“, nach der es den Arbeitern immer schlechter geht. National kann man das wahrlich nicht zur Regel erklären, im Gegenteil: Industriearbeiter haben heute Häuser, Autos und fahren mehrfach im Jahr in den Urlaub. Auf die Welt übertragen, Beispiel Kinderarbeit in der Dritten Welt, etwa bei der Textilproduktion, lässt sich das nicht so leicht sagen: Die Einkommen der Ärmsten sinken, die Arbeitsbedingungen sind wie im 19. Jahrhundert, während die Reichen immer reicher werden.

 

Aber manchmal macht der Kapitalismus auch vor den Reichen nicht halt. Ist die Bankenkrise im Jahr 2008 mit der Marx’schen Kapitalismuskritik zu erklären?

 

NEFFE: Ja und nein, weniger mit seiner Kritik als mit seiner Systemtheorie: Natürlich kannte Marx kein Internet, konnte sich den lichtschnellen Handel mit Wertpapieren nicht vorstellen, wie erst den mit verschachtelten Schuldverschreibungen. Aber wie sich die wachsende Verschuldung krisenhaft auswirken kann, davon hat er sich schon ein Bild gemacht. Er beschreibt den Kapitalismus wie einen Krebs, der um jeden Preis wachsen muss – und am Ende seinen Wirt auch vernichten kann.

 

Vielleicht nicht nur den „Wirt“, sondern auch die Umwelt. Hat Marx auf die Umweltzerstörung schon im Fokus gehabt?

 

NEFFE: Als einer der ersten hat Marx angesichts der kapitalistischen Produktionsweise die Endlichkeit der Erde gesehen und neben die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auch die der Erde durch den Menschen thematisiert. Manche sehen in ihm sogar einen der Vordenker der heutigen Umweltbewegung. So weit würde ich nicht unbedingt gehen.

 

Kommen wir zur praktischen Politik? Welche Parteien in Deutschland würde Marx heute nahestehen?

 

NEFFE: Da habe ich keine gute Antwort. Man würde natürlich als erstes auf die Linke tippen. Aber wenn ich mir ansehe, welche Grabenkämpfe dort die Tagesordnung bestimmen, hätte er sich eher angewidert abgewendet. Vielleicht wäre ihm eine linke Sammlungsbewegung am nächsten, wie sie jüngst das Ehepaar Lafontaine-Wagenknecht vorschlägt.

 

Taugen die Lehren von Marx heute noch für die Veränderung der Gesellschaft oder sind sie eine revolutionäre Anleitung?

 

NEFFE: Ich weiß nicht, ob sie das je wirklich waren. Ich schreibe in meinem Buch, dass man von Marx nicht lernen kann, wie man eine Revolution macht, sondern eher, wie man es nicht anstellen soll. Für die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, etwa in Russland oder China, hat man seine Lehre ganz schön verbiegen müssen, um sich auf ihn berufen zu können.

 

Marx ging davon aus, dass der Kapitalismus an seinen Krisen zugrunde gehen wird. Ist diese These noch haltbar?

 

NEFFE: Ich würde es nicht ausschließen. Allerdings sollten wir bedenken, dass Marx keinen Zeitraum benannt hat, auch wenn ihm das immer wieder unterstellt wird. Aber wenn ich mir das System einmal so vorstelle, wie ein Monopoly-Spiel, dann kann ich mir durchaus sein Ende ausmalen, wenn einem Spieler beziehungsweise einer Handvoll Menschen alles gehört. Das Ende des Kapitalismus wird ja heute in vielen Büchern an die Wand gemalt – ob es dann mehr oder weniger im Marx’schen Sinn geschieht, dürfte zweitrangig sein.

 

Auf was kommt es dann an?

 

NEFFE: Vielmehr sollten wir für den Fall einen Plan B bereithalten, eine Idee haben, wie das Leben ohne Kapitalismus weitergehen könnte, was ja nicht bedeutet, dass unser Wirtschaften an ein Ende käme. Zugespitzt heißt das: Marx hat die Systemfrage gestellt, die Frage nach dem Privateigentum, nicht am Handy oder Häuschen, sondern an den Produktionsmitteln. Er hat als erster vom „arbeitenden Geld“ gesprochen. Eine postkapitalistische Welt in seinem Sinne würde das überwinden und die Gemeinschaft, wie auch immer, zum Eigentümer machen. Ob das ohne Revolution passieren könnte, mag sich jeder selbst beantworten. Vielleicht würden wir es erst im Nachhinein merken und dann feststellen, dass Marx recht gehabt hat – oder nicht.

 

Buchhinweis: Jürgen Neffe, Marx – der Unvollendete, C. Bertelsmann Verlag, 2017, 656 Seiten, 28 Euro"

 

English version

 

The teachings of Karl Marx are again increasingly in focus in the times of crisis of capitalism. A conversation with the Marx biographer and bestselling author, Jürgen Neffe, about the topicality of Marx's theory and the downfall of the capitalist economic system. The teachings of Karl Marx are again increasingly in focus in the times of crisis of capitalism. An interview with the Marx biographer and bestselling author, Jürgen Neffe, about the topicality of Marx's theory and the downfall of the capitalist economic system.

 

 

Mr. Neffe, Karl Marx's 200th birthday is coming up shortly. What makes the great critic of capitalism popular again today?

 

JÜRGEN NEFFE: Globalized capitalism today is like Marx painted it on the wall 150 years ago. His visionary writings - from early to late works, from alienation to the commodity fetish - make him appear like a prophet - something he never wanted to be.

 

What did Marx want?

 

NEFFE: Rather, his theory with its predictive power is based on his profound philosophical analyses, for example of the double character of work, which always simultaneously creates a utility and an exchange value that cannot be related to one another. Marx also made the current distinction between having value and being value: Money, for example, has no value but is worth something (as much as it says on it), air has an irreplaceable value (for survival), but is worth nothing in the sense that I cannot exchange it for anything.

 

And what about the value of work?

 

NEFFE: Work, Marx says, is the only source of value, and if we're going to go with big data and robots in Industry 4.0 to gradually abolish it, we're going to have to rethink the whole system in order to save it - with machine tax or basic income, for example. All of this occurs directly or indirectly in Marx's world of thought - as does the highly topical question of whether we live to work or work to live.

 

Are there still political movements today that refer to Marx?

 

NEFFE: Yes, of course. All "left" movements originally go back to Marx. The fact that the SPD of all people distanced itself from him in 1959 in the Godesberg Programme, which was also due to the circumstances with two German states, could now be to its disadvantage. Anyway, "more radical" leftists who don't distance themselves in the form of Marx and his thoughts, I think of people like Sanders, Corbyn or Mélenchon, have more popularity.

 

But what about the countries where Marx "rules"?

 

NEFFE: But when I look at the "communist" China that refers to Marx, I rather assume that he would not have liked that. A communism like the one he had in mind, where everyone performs according to his ability and everyone is given according to his needs, where the freedom of the individual is the prerequisite for the freedom of all, and not the other way round, the world has not yet seen such a communism.

 

Is capitalism then for all time the lesser evil?

 

NEFFE: Marx was the first to see through capitalism in a way that is still valid today - one would better say more today than in his day. This juggernaut of modernity, as I call it, is a man-made system over which people have lost control, which dominates us instead of us dominating it. Marx speaks of an "automatic subject" that makes us all puppets. Phenomena such as exploitation or capital accumulation can still be best explained today with Marx's fundamentals. However, he underestimated capitalism's ability to learn.

 

Explain that!

 

NEFFE: If capitalism had remained as it was in its day, i.e. without collective agreements or social benefits, the system would probably not have survived. Marx is much criticized for his "impoverishment theory", according to which the workers are getting worse and worse. On the contrary: industrial workers today have houses, cars and go on holiday several times a year. It is not so easy to say that this is true of the world, for example child labour in the Third World, for example in textile production: the incomes of the poorest are falling, working conditions are the same as in the 19th century, while the rich are getting richer and richer.

 

But sometimes capitalism does not stop at the rich either. Can Marx's criticism of capitalism explain the banking crisis in 2008?

 

NEFFE: Yes and no, less with his criticism than with his system theory: Of course, Marx knew no Internet, could not imagine the lightning-fast trading of securities, as only with interlocking bonds. But he has already formed a picture of how the growing debt can have a crisis-like effect. He describes capitalism as a cancer that must grow at any price - and in the end can also destroy its host.

 

Perhaps not only the "host", but also the environment. Has Marx already focused on environmental destruction?

 

NEFFE: Marx was one of the first to see the finiteness of the earth in view of the capitalist mode of production and, in addition to the exploitation of man by man, he also addressed the exploitation of the earth by man. Some even see him as one of the thought leaders of today's environmental movement. I would not necessarily go that far.

 

Are we coming to practical politics? Which parties in Germany would be close to Marx today?

 

NEFFE: I don't have a good answer. Of course, the first thing you would guess would be the left. But when I look at the trench warfare that determines the agenda there, he would have turned away rather disgusted. Perhaps the closest thing to him would have been a left-wing collection movement, as the couple Lafontaine Wagenknecht recently proposed.

 

Are Marx's teachings still useful today for changing society, or are they revolutionary guidance?

 

NEFFE: I don't know if they ever really were. I write in my book that one cannot learn from Marx how to make a revolution, but rather how not to do it. For the revolutions of the 20th century, for example in Russia or China, one had to bend his teaching quite a bit in order to be able to refer to him.

 

Marx assumed that capitalism would perish in its crises. Is this thesis still tenable?

 

NEFFE: I wouldn't rule it out. However, we should bear in mind that Marx did not specify a time period, even though he is repeatedly accused of this. But if I imagine the system to be like a Monopoly game, then I can imagine its end when a player or a handful of people own everything. The end of capitalism is painted on the wall in many books today - whether it happens more or less in Marx's sense is probably of secondary importance.

 

What then matters?

 

NEFFE: Rather, we should have a Plan B ready for the case, an idea of how life could go on without capitalism, which does not mean that our economic activity would come to an end. To put it bluntly: Marx asked the system question, the question of private property, not on a mobile phone or a cottage, but on the means of production. He was the first to talk about "working money". A post-capitalist world in his sense would overcome this and make the community, however it may be, the owner. Whether this could happen without revolution may be answered by anyone. Maybe we would notice it afterwards and then realize that Marx was right - or not. mei