Herr Reichholf, Sie haben an der ersten deutschen Neuübersetzung des legendären Werks von Charles Darwin, „Der Ursprung der Arten“ , nach 100 Jahren mitgearbeitet. Was war ihr Antrieb?
JOSEF H. REICHHOLF: Die alten Übersetzungen entsprechend den heutigen Begriffsinhalten nicht mehr gut genug. Auch der Stil hat sich geändert. Wirkt ein Text veraltet, nimmt die Neigung, ihn zu lesen, entsprechend ab. Darwins Hauptwerk ist aber zu wichtig und zu bedeutsam weit über den Bereich der Biologie hinaus, um es einfach verfallen zu lassen. Hinzu kommt, dass jede Übersetzung gemäß aus dem Zeitgeist heraus das Original verändert und auf subtile Weise auch verfälscht.
Was kann man heute als Wissenschaftler noch von Darwin lernen?
REICHHOLF: Viel; sehr viel sogar. „Der Ursprung der Arten…“ ist eine Fundgrube, denn Darwin hatte geradezu enzyklopädisch das biologische Wissen seiner Zeit zusammengefasst, auch das, was ihm in Briefen und Zusendungen persönlich zugetragen worden war und daher nicht in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu finden ist. So manche vermeintliche Neuentdeckung unserer Zeit ist bereits bei Darwin beschrieben oder angedacht zu finden. Offenbar wird Darwin zu wenig gelesen.
Reicht denn die Evolutionstheorie aus, um heute noch biologische Phänomene zu beschreiben?
REICHHOLF: Die allgemeine Sicht der Evolution reicht sehr wohl aus. Nach wie vor gilt, dass im Lebendigen nichts Sinn ergibt, außer im Licht der Evolution. Anders verhält es sich mit den speziellen Erklärungen. Zu Darwins Zeit waren die Vorgänge der Vererbung noch völlig unbekannt. Von einer im Erbgut gespeicherten Information, deren Träger wir DNA nennen, ahnte man noch nichts. Sie wurde erst ein Jahrhundert nach Darwin entdeckt, wie Vieles auch, das im Prozess der Evolution eine Rolle spielt. Um es anders auszudrücken: Darwins Werk ist keine Bibel, sondern ein Programm mit Fernwirkung für die Forschung.
Wo lag Darwin falsch?
REICHHOLF: Teilweise falsch lag Darwin in der Annahme, dass Evolution unmerklich langsam verlaufen würde. Er meinte, wir hätten keine Chance, die evolutionäre Veränderung direkt zu erkennen. Sie ließe sich lediglich rückblickend erschließen. Doch dank der tiefen Einblicke in die genetischen Prozesse, die wir im letzten halben Jahrhundert gewonnen haben, wissen wir, dass es durchaus Zeiten und Umstände gibt, die eine schnelle Evolution ermöglichen. Höchst bedrohlich schnelle sogar, etwa bei Krankheitserregern, aber auch Entwicklungen, die unsere Eingriffe in die Natur auslösen. Arten differenzieren sich jetzt vor unseren Augen, und zwar so sehr, dass der Mensch inzwischen zu einer Triebkraft der Evolution geworden ist.
Karl Marx und Friedrich Engels, Zeitgenossen von Darwin, waren begeistert von dessen Werk. Haben beide Darwin politisiert? War Darwin „links“? War er ein „Revolutionär“?
REICHHOLF: Weder noch! Darwin war sich der Brisanz seines Werkes speziell im Hinblick auf den Schöpfungsglauben des Christentums durchaus bewusst. Aber seinen Schriften ist meines Erachtens nicht zu entnehmen, dass er politisch links gerichtet war oder ein Revolutionär sein wollte. Revolutioniert hat er dennoch über die Biologie hinaus das Welt- und Selbstverständnis vieler Menschen. Ganz im Sinne einer großen geistigen Revolution. Darwin wäre aber sicher sehr getroffen gewesen, hätte er erleben müssen, wie sehr Versatzstücke aus seinen Werken ideologisch missbraucht wurden – in jeder Richtung!
Sie sprechen es an. Der Darwinismus hat verschiedene Facetten ausgebildet. Eine davon ist politisch. Was bedeutet in diesem Zusammenhang „Sozialdarwinismus“?
REICHHOLF: Der mit seinem Namen verbundene „Sozialdarwinismus“ ist der von allen vielleicht infamste Missbrauch, weil vom ’survival of the fittest’ das Darwin als Ausdruck nicht selbst geprägt, sondern von Herbert Spencer übernommen hatte, ein „Recht des/der Stärkeren“ abgeleitet worden war. Die Briten praktizierten dies mit ihrem globalen Herrschaftsanspruch im 19. Jahrhundert. Andere „Nationen“ folgten dem Zug der Zeit und fuhren ihn ins Verderben.
Ist Darwin daran schuld?
REICHHOLF: Dies Darwin anlasten zu wollen, wäre ebenso unfair, wie Albert Einstein, Otto Hahn oder Lise Meitner den Missbrauch der Physik und der Atomforschung zu Fertigung und Einsatz der Bomben. Die ideologische Überheblichkeit des „europäischen Westens“ ist keine Folge von Darwins Werken; sie existierte bereits vor seiner Zeit und sie lebt weiter fort in unserer Zeit.
Wie haben sich denn die Religionen mit Darwin arrangiert? Passen die beiden zusammen?
REICHHOLF: Im Buddhismus durchaus. Konfliktträchtige Verhältnisse sind vornehmlich mit dem Christentum und dem Islam gegeben. Die Katholische Kirche ringt um eine für sie akzeptable Lösung, die vor allem in einem Rückzug auf die Seele besteht, während sie bereit ist, die „organische Evolution“ hinzunehmen. Anders verhalten sich Gruppierungen, wie die sogenannten Evangelikalen, die sich strikt auf die Bibel berufen und von göttlichen Schöpfungseingriffen (Kreationismus) ausgehen oder einen Schöpfer geschickt in ein „Intelligent Design“ verpacken.
Zeigt das Wirkung?
REICHHOLF: Damit wird massiv Front gegen die Evolution gemacht; in den USA mit besonders großem, auch politisch wirkmächtigem Erfolg. Doch auch in weiten Teilen Europas läuft ein Wiedererstarken der Religionen ab. Konflikte mit der Evolution äußern sich verdeckt mit Ethik als Argument zur Ablehnung. Frei ist in dieser Hinsicht das Denken und Forschen in Ostasien.
Wie hat Darwin denn die Gesellschaft verändert?
REICHHOLF: Weniger als üblicherweise angenommen wird. Darwins Wirken hat zwar die Biologie zur Jahrhundertwissenschaft gemacht. Ihrer Ergebnisse bedient sich die Gesellschaft ganz selbstverständlich, seien es Medikamente, Züchtungen von Mikroben, Pflanzen oder Tieren. Akzeptiert ist auch die evolutionsbiologische Feststellung, dass alle Menschen einer einzigen Art, Homo sapiens, angehören. Aber die evolutionäre Sicht, die Wandel akzeptiert und von fundamentalistisch ewigen Wahrheiten Abstand nimmt, hat sich nicht durchgesetzt. Biologie wird im Schulunterricht sogar abgebaut. Biologisches Wissen nimmt entsprechend ab. Unsere freie Verfügbarkeit von Information hat das Wissen nicht gefördert. mei
Buchhinweis: Charles Darwin, Der Ursprung der Arten, Mit einem Nachwort von Josef Helmut Reichholf, aus dem Englischen von Eike Schönfeld (Orig.: On the Origin of Species), Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018 612 Seiten, 48 Euro
Zur Person: Josef Helmut Reichholf (Jahrgang 1945) wurde in Aigen am Inn geboren. Er ist Zoologe, Evolutionsbiologe und Ökologe. Zusammen mit Bernhard Grzimek, Horst Stern und Hubert Weinzierl gründete er Anfang der 1970er Jahre in München die „Gruppe Ökologie“, eine „Keimzelle“ des später gegründeten Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). mei