Leonardo da Vinci das Universalgenie mit der Vorliebe für Technik

Herr Eckoldt, was hat uns Leonardo 500 Jahre nach seinem Tod noch zu sagen?

 

MATTHIAS ECKOLDT: Leonardo war ein ruheloser Geist, der immer weiter wollte. Und er war zugleich ein typischer Renaissancemensch, der sich für alles interessierte. Ich würde sagen, Leonardo da Vinci war ein Universalist. Was immer ihm begegnete, wurde von ihm bedacht. Gezeichnet, kommentiert und nach seinem Wissensstand gewürdigt. Dabei hatte Leonardo keinerlei Scheu sich an die schwierigsten Themen zu wagen.

 

Was für eine Botschaft hätte er für uns?

 

ECKOLDT: Was Leonardo machte, tat er mit einem unglaublichen Selbstvertrauen und ohne dass er ein systematisches Studium genossen hatte. Er war ein universeller Quereinsteiger. Das wäre vielleicht so eine Botschaft von ihm, die er uns über 500 Jahre hinweg zuruft: Traut euch selber zu denken! Nehmt keine vorgefertigten Meinungen an und vertraut nur eurer sinnlichen Wahrnehmung. Das könnte Leonardos Botschaft für unsere so komplex gewordenen Lebensverhältnisse sein. 

 

Was zeichnete Leonardo aus? War er ein Universalgenie? 

 

ECKOLDT: Ich würde nicht sagen, dass Leonardo ein Universalgenie war. Wirklich genial war er als Maler. Auch ein unglaublich talentierter Zeichner. Einer der ersten, der die Perspektive beherrschte. Das war meines Erachtens der Kern seines Schaffens und seiner Genialität. Natürlich hat er sich auch mit allen Wissenschaften beschäftigt, die es zu seiner Zeit gab. Auch mit Anatomie. Er nahm ja an mehreren Sektionen teil, und er konnte das Innere des Körpers wie kaum ein anderer zeichnen. 

 

Nutzten ihm diese Talente auch auf anderen Gebieten?

 

ECKOLDT: Dieses Talent kam ihm auch bei seinen Maschinenentwürfen entgegen. Wenn man sich seine Zeichnungen ansieht, denkt man, dass all diese Dinge – Hubschrauber, Panzer, Kanonen, Flugzeug, U-Boot, Kanalbaumaschine und vieles andere – dass also all diese Dinge auch funktionieren müssen. Einfach nur, weil sie so unglaublich gut dargestellt sind. Doch wenn man sich von der genialen Darstellung nicht blenden lässt, stellt man ein ums andere mal fest, dass diese Apparate, die gern als seine Erfindungen hingestellt werden, nicht funktionieren. Insofern kann man ihn beim besten Willen nicht als Universalgenie bezeichnen, wenn man mit diesem Ausdruck meint, dass er in vielem, was er machte, genial war. Das war er wirklich „nur“ in der Malerei. Er war kein Universalgenie, er war ein Universalneugieriger. 

 

Gibt es heute noch solche „Universalneugierigen?

 

ECKOLDT: Ganz sicher. Das sind unsere Kinder. Für sie ist die Welt eine riesige Wundertüte. Und sie haben keine Angst davor ständig zu fragen und alle möglichen Theorien aufzustellen, und scheinen sie noch so unsinnig. Wie Leonardo auch. Man muss sich sein Denken als eine Mischung aus geschärfter Wahrnehmung und wilder Spekulation vorstellen. Er interessiert sich für die Dinge in dem Moment, wo sie sich ihm zeigen. Und wie ein Kind ist er rasch schon wieder beim nächsten Phänomen. Nicht von ungefähr hat der Philosoph Karl Jaspers in Leonardo einen „Fragmentarier“ gesehen. Daher rührt auch seine Abschlussschwäche. Er bringt kaum etwas zu Ende, weil ihn der Höhenflug des Neuen weitaus mehr reizt als die Mühen der Ebene, die es braucht, um eine Sache zu Ende zu bringen. Das hat tatsächlich etwas Kindliches – im besten Sinne. 

 

Gibt es etwas, was heutige Wissenschaftler noch von Leonardo lernen können?

 

ECKOLDT: Die heutige Wissenschaft steckt schon sehr im Spezialistentum fest. Zugleich gab es immer wieder einzelne Wissenschaftler, die komplett neue Wege eröffnet haben, indem sie aus diesem Spezialistentum ausgestiegen sind und sich auf der Grundlage ihres Faches für andere Wissensgebiete interessiert haben. Der österreichisch-amerikanische Physiker Heinz von Foerster wäre so ein Beispiel, der durch seine Öffnung die Kybernetik als interdisziplinäres Fach neu aufgestellt und ungemein bereichert hat. Solche Leute könnten wir immer mal brauchen. Die sich nicht so sehr um ihre akademische Karriere und kümmern, sondern für die das Abenteuer des Denkens im Mittelpunkt steht. Leonardo wollte Wissenschaft, aber möglicherweise keine Wissenschaft der ausschließlich harten Fakten, sondern eine, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Und Menschsein heißt fehlbar sein. 

 

Was halten Sie für Leonardos „größte“ Erfindung?

 

ECKOLDT: Seine beste Erfindung war ganz sicher keine technische. Ich denke, seine beste Erfindung war seine Art zu denken, die mehr als die kalte Logik der technischen Machbarkeit kennt. Leonardo scheute sich nicht vor Abwegen und exzentrischen Spekulationen, er bestand auf einem Denken in Analogien, wo in der Moderne bald nur noch strenge Kausalität gefragt sein wird, und er versuchte beharrlich, dem Subjektiven Gehör zu verschaffen. 

 

Warum scheiterten so viele Ideen von Leonardo? 

 

ECKOLDT: Leonardo werden über 80 Erfindungen zugeschrieben. Für mein Buch habe ich sie alle geprüft. Keine einzige hat Bestand. Die meisten Geräte fand Leonardo bereits vor. Panzer, Katapulte, Kanonen, Fallschirme und Fluggeräte, Druckerpresse, Pumpen und Kräne und Schaufelradboote. Entweder gab es dazu in der Antike bereits Entwürfe und Geräte, spätestens aber bei seinen Vorgängern wie Taccola oder Valturio. Leonardo kopierte das alles und im Prozess dieser Anverwandlung fügte er eigene Ideen hinzu. Oft genug aber machten seine Ideen die Entwürfe funktionsuntüchtig, weil er eine eher ästhetisches als eine technische Herangehensweise pflegte.

 

Als großen Erfinder kann man Leonardo also nicht bezeichnen?

 

ECKOLDT: Nicht umsonst entstand zu Lebzeiten Leonardos nicht ein einziger Prototyp. Und auch danach nicht. Erst Benito Mussolini ließ in Anlehnung an die Skizzen Leonardos Modelle bauen und inthronisierte Leonardo als großen Erfinder und Universalgenie. Als zweitgrößten Italiener gewissermaßen – nach ihm selbst. Dieser faschistischen Propaganda sitzen wir auf, wenn wir weiterhin von Leonardo als genialem Erfinder reden und uns vor einer realistischen Sichtweise auf ihn verschließen. Leonardo selbst hätte nicht an den Geniekult um ihn geglaubt! mei

 

Mit was würde sich Leonardo heute beschäftigen?

 

ECKOLDT: Vielleicht eine neue Lebensweise, die ein Gegenbild zum zerstörerischen Konsumismus darstellen könnte. Leonardo war ja ein sehr bescheidener, selbstgenügsamer Mensch. Bleistift und Notizbuch genügten ihm für sein Lebensglück. 

 

 

Buchhinweis: Matthias Eckoldt, Leonardos Erbe. Zum 500. Todestag von Leonardo da Vinci im Mai 2019, Penguin Verlag, München 2019, 320 Seiten, 10 Euro

Zur Person: Matthias Eckoldt veröffentlichte drei Romane und mehrere Sachbücher. Sein Werk „Eine kurze Geschichte von Gehirn und Geist“ wurde für das Wissensbuch 2017 nominiert. „Die Intelligenz der Bienen“ (gemeinsam mit dem Neurowissenschaftler Randolf Menzel), stand auf der Longlist für das Wissenschaftsbuch 2017 in Österreich. Für seine Arbeit wurde Eckoldt mit dem idw-Preis für Wissenschaftsjournalismus ausgezeichnet. mei"