Der Tagesspiegel: Ruf nach Nahles-Ablösung
Die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange fordert nach dem SPD-Debakel bei der Europa- und Bremenwahl einen personellen Neustart ohne die bisherige Vorsitzende Andrea Nahles. "Die Urwahl des Vorsitzes wäre ein echter Neubeginn und ein Aufschwung zugleich", sagte sie dem Tagesspiegel. Lange war beim Bundesparteitag im April 2018 in Wiesbaden gegen Nahles angetreten und erreichte fast 30 Prozent. "Die Bundes-SPD hat in diesem Jahr noch die Chance, ihren Vorstand neu aufzustellen. Wir SPD- Mitglieder müssen diese Chance nutzen und allen zeigen, dass wir es besser könne", sagte Lange mit Blick auf den Bundesparteitag im Dezember.
Ist Nahles Überzeugungskraft groß genug
Die Menschen hätten der SPD gezeigt, dass sie auch bei dieser Wahl nicht mehrheitlich von ihr überzeugt sind. "Wenn Andrea Nahles sagt, sie habe Stehvermögen, dann verkennt sie, dass es nicht darum geht, wie lange sie persönlich durchhalten kann, sondern, ob ihre Überzeugungskraft groß genug ist, der Sozialdemokratie zu Wahlsiegen zu verhelfen. Das Wahlergebnis gibt darauf doch eine eindeutige Antwort."
Neues Deutschland - Rechtsruck bei Europawahl
Zweierlei hat die Wahl zum EU-Parlament gezeigt. Zum einen: Die Angst vor dem Verlust einer Gemeinschaft, die trotz aller berechtigter Kritik an Konstrukt und Politik einen wesentlichen Beitrag zur Frieden und Stabilität - ja, auch wirtschaftlicher und im bescheidenen Maße sozialer - geleistet, Grenzen überwunden und Menschen zueinander geführt hat, ist groß. Der drohende Rechtsdrall hat diesmal weit mehr Menschen an die Urnen gebracht als bei vorangegangenen Europawahlen.
Höhnische Missachtung europäischer Werte
Denn die von Rechtsaußen vollzogene Rückkehr zur Dominanz des Nationalen, der insbesondere bei Konservativen kaum auf Widerstand stieß, die höhnische Missachtung verbriefter europäischer Werte, wie sie sich in der Unterminierung einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik zeigt, die unsanktionierte Jeder-ist sich-selbst-der-nächste-Mentalität setzen das »Projekt Europa« als Ganzes aufs Spiel. Angesichts dessen verteidigen selbst ausgewiesene EU-Kritiker die Integration.
Konstruktive Arbeit ohne ideologische Barrieren
Zum anderen: Das Vertrauen in andere Parteien, tatsächlich dieses EUropa verändern zu wollen und zu können, ist offenbar begrenzt. Zu abgehoben erscheinen die Programme, zu weit weg von der Lebensrealität, zu stark auf einzelne Aspekte fokussiert. Dass im EU-Parlament künftig eine andere Politik nur gegen die gestärkte Fraktion von Europagegnern durchzusetzen ist, macht es nicht einfacher. Aber konstruktive Arbeit ohne ideologische Barrieren ist der vielleicht erfolgversprechendste Weg, den Rechten Einhalt zu gebieten.
Stuttgarter Nachrichten zur Europawahl
In Deutschland stehen Union und SPD vor neuen Debatten über ihr Führungspersonal und ihre Koalition. Sollte CSU-Mann Manfred Weber, Spitzenkandidat der Volkspartei im EU-Parlament, doch nicht Präsident der Kommission werden, wird die Debatte in der Union derjenigen in der SPD an Schärfe kaum nachstehen. Das zentrale Ergebnis dieser Wahl aber ist, was EU-Kommissar Günther Oettinger treffend auf den Punkt gebracht hat: In den starken proeuropäischen Fraktionen des Parlaments, bei Christ- und Sozialdemokraten, verlieren die Deutschen an Mandaten und Bedeutung. Und damit Deutschland in Europa.
Berliner Morgenpost: Ein Drama namens SPD
An diesem Wahlsonntag wird die Bundespolitik noch lange zu kauen haben: Der Wähler hat die großen - oder besser, ehemals großen - Volksparteien wieder brutal abgestraft. Die Union bleibt zwar stärkste Kraft, ist aber weiter im Abschwung. Die SPD erlebt ein Drama und landet deutlich hinter den Grünen, die sich glatt verdoppeln konnten. Es ist eine historische Demütigung für die Sozialdemokraten. Endgültig vorbei ist die Zeit, als Gerhard Schröder noch der Chefkoch in der rot-grünen Koalition war und den kleinen Partner breitbeinig als "Kellner" verhöhnen konnte.
Sozialdemokraten in desolater Verfassung
Die Sozialdemokraten sind mittlerweile in derart desolater Verfassung, dass sie froh sein können, wenn sie überhaupt noch irgendwo mitregieren können. Sogar im SPD-treuen Bremen ist ihre historische Vormachtstellung offensichtlich Geschichte. Jetzt geht das altbekannte Spiel wieder los: Abrechnung mit dem Parteichef! Diesmal ist die erste weibliche Vorsitzende Andrea Nahles dran. Sie hat gekämpft und es trotzdem nicht geschafft hat, die Partei aus der Todesspirale herauszuführen.
Ausgerechnet Martin Schulz führt einen Putsch an
Dass ausgerechnet der Wahlverlierer Martin Schulz jetzt einen Putsch gegen sie anführt, zeigt, wie dramatisch die Personalsituation in Deutschlands ältester Volkspartei ist. Und mit jeder neuen Runde der Selbstzerfleischung rutscht die SPD noch tiefer in den Keller. Es droht die reale Gefahr, dass die Partei von Willy Brandt wie Frankreichs Sozialisten den Weg in die Bedeutungslosigkeit angetreten hat.
Union ist Verlierer der Europawahl
Auch die Union ist ein Verlierer dieser Europawahl. Die Arbeitsteilung von Parteivorsitzender und Kanzlerin hat den Wähler offenbar nicht überzeugt. Dazu kam ein Spitzenkandidat, der zwar viel Seriosität, aber wenig Charisma zu bieten hatte. Bis gestern kannte jeder dritte Wähler Manfred Weber nicht. Das reicht am Ende eben nicht für einen klaren Sieg und macht Webers Traum vom Präsidentenamt in Brüssel noch unrealistischer.
Blauhaariger Youtuber führt die CDU vor
Überhaupt war der Europawahlkampf angesichts der großen Herausforderungen insgesamt erstaunlich blass. Dass die teure Wahlkampftruppe von CDU/CSU sich auf den letzten Metern von einem blauhaarigen Youtuber an die Wand spielen ließ, war "f***ing krass", um es mit Rezo, dem selbst ernannten CDU-"Zerstörer" mal drastisch zu formulieren. Vielleicht finden die Volksparteien die Kraft, grundsätzlich mal über einen modernen Wahlkampf nachzudenken. Der alte Dreikampf aus sinnfreien Plakaten, Wahlkampfauftritten mit Papierfähnchen und den berühmten Info-Klapptischen in der Fußgängerzone ist endgültig aus der Zeit gefallen.
Die sozialen Netzwerke beherrschen
Wer dagegen die sozialen Netzwerke beherrscht und auf Emotionen statt auf bürgerfernen Polit-Sprech setzt, wird gehört. Das mögen Traditionalisten beklagen, aber es ist trotzdem wahr. Wie es funktioniert, können Union und SPD von den Grünen lernen. Diese haben offensichtlich mit ihren Themen den Nerv der Wähler exakt getroffen. Sie triumphierten in den Großstädten und haben jetzt ein politisches Luxus-Problem: Sie brauchen einen Kanzlerkandidaten.
Kein Erdrutsch für die AfD
Zwei Ergebnisse hat die Wahl, die durchaus Grund zur Freude sind. Zum einen konnte die AfD in Deutschland mit ihrem populistischen Anti-Europa-Kurs für keinen Erdrutsch sorgen. Die Rechten blieben deutschlandweit unter den Prognosen, nur im Osten wurden sie wirklich stark. Und gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung der Deutschen deutlich gestiegen. Das Interesse an Europa ist größer geworden. Die Jungen sind offenbar wach geworden und wollen sich einmischen. Das sollten alle - auch die großen Wahlverlierer - durchaus als Chance begreifen. Jörg Quoos
pm, ots