Neues Deutschland zur Dreier-Spitze der SPD
Was der SPD widerfährt, stellt frühere Krisen in den Schatten. Und an Krisen mangelte es nicht. Aber immer gelang bisher ein mehr oder weniger glatter Übergang - weil ein Machtkampf entschieden war oder weil schnell eine Übergangslösung eingefädelt wurde, in der die Lösung des Problems angelegt war.
Es regiert die Ratlosigkeit
Diesmal regiert vor allem die Ratlosigkeit. Ratlosigkeit über die Gründe des fortgesetzten dramatischen Scheiterns der Sozialdemokraten bei Wahlen und über das Wohin, das irgendwie mit dem Woher zusammenpassen müsste. Dass nun gleich drei Ko-Vorsitzende amtieren sollen, ist Ausdruck dessen. Ein Notkomitee, das die aufgewühlte Parteibasis therapieren soll. Drei bisherige Stellvertreter mit Sympathiebonus, aber ohne Machtambitionen.
Das Regierungsgeschäft am Laufen halten
Sie müssen die Partei zusammenhalten (was einem Rettungseinsatz gleicht), den Streit der Flügel kanalisieren und das Regierungsgeschäft am Laufen halten. Eigentlich müssten sie dafür Schmerzensgeld bekommen.
Mit der Dreierspitze hat sich die SPD - wenn es gut geht - ein paar Monate Zeit gekauft. Bis zum Herbst, wenn nach den Landtagswahlen in drei Ostländern wieder Aufarbeitungsbedarf bestehen dürfte. Dann beginnt die eigentliche Auseinandersetzung: um das Spitzenpersonal und die Ausrichtung der SPD. Die Große Koalition wird zur Debatte stehen. Gut möglich, dass nicht nur eine neue Parteispitze gewählt wird, sondern bald darauf auch ein neuer Bundestag. Vom »schönsten Amt der Welt neben dem Papst« (Franz Müntefering) ist der SPD-Vorsitz derzeit meilenweit entfernt.
Berliner Zeitung zur SPD
Es hat vermutlich wenig Sinn, in absehbarer Zeit eine wirklich glaubhafte Erneuerung der SPD und auch der CDU zu erwarten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es den ehemaligen Volksparteien so geht wie den Pleite-Banken zu Zeiten der Finanzkrise. In Analogie zu damals kann man ihnen nur versichern: Die Wählerstimmen sind nicht weg. Sie sind jetzt nur woanders. Ändert Euer Geschäftsmodell.
Stuttgarter Zeitung zum Rücktritt von Andrea Nahles
"Wenn die Koalition mit der Union an der akuten SPD-Krise zerbricht, spricht vieles für vorzeitige Neuwahlen. Was die Sozialdemokraten von Neuwahlen zu erwarten hätte, deuten die miserablen Umfragen an. Nach einer Neuwahl könnte sich durchaus die Chance für eine Regierung links der CDU eröffnen - wenn die SPD dann bereit wäre, den Steigbügelhalter für einen grünen Kanzler Robert Habeck zu spielen. Im optimalen Fall würde sie demnach von einer fatalen Nebenrolle in die nächste wechseln.
Berliner Morgenpost zum Nahles-Rücktritt
Die SPD wird nicht aus der Krise kommen, wenn sie nur den Vorsitz und die Fraktionsspitze austauscht. Die Partei muss sich erneuern und sich die Frage stellen: Wozu braucht man uns? Warum soll im Jahr 2019 jemand SPD wählen? Kurzum: Die SPD muss auch raus aus dieser unseligen GroKo. Wenn die SPD überleben will, muss sie sich jetzt zuerst um sich selbst kümmern. Die Partei braucht dringend Leute, die aus dem echten Leben kommen. Sie braucht Köpfe mit Charisma, mit Lebenserfahrung jenseits der klassischen Parteikarriere. Sie benötigt Kommunikationstalente, die auch einen Youtuber Rezo mit guten Argumenten alt aussehen lassen. Das alles dauert, daher muss sich die SPD ans Werk machen und die Nahles-Nachfolge zügig regeln. Denn viel Zeit bleibt den Sozialdemokraten für ihre Operation Neuanfang nicht mehr.
Neue Ruhr Zeitung zum Nahles-Rücktritt und die Folgen für die SPD
Die alte SPD ist kaputt. Parteikarrieren, die mit dem Aufstieg die Persönlichkeit oftmals abschleifen, aber Autorität verschaffen, sind längst kein Garant mehr für den Verbleib in Spitzenpositionen. Andrea Nahles, in eine Arbeiterfamilie hineingeboren, begnadete Netzwerkerin, Juso-Vorsitzende und erfolgreiche Ministerin, ist an der neuen SPD gescheitert. Sie hat als Parteivorsitzende nicht funktioniert, weil sie nicht in der Lage war, der Basis das Gefühl zu geben, sie angemessen zu repräsentieren. Zu ungelenk, zu kindisch waren ihre Auftritte, zu plump die Ansprache.
In den Ortsvereinen stand kaum einer hinter Nahles
In den Ortsvereinen, da, wo sich die Leute vor Wahlen immer noch krumm machen, weil sie an die Geschichte und die Ideale der SPD glauben, war kaum ein Mensch zu finden, der hinter Nahles stand. Es grummelt seit geraumer Zeit an dieser Basis. Sie lässt sich nicht befrieden, weil sie zutiefst verunsichert ist und nicht weiß, ob die SPD überhaupt eine Zukunft hat. Nahles ist zum Opfer dieser Wut geworden, die von der Basis nach oben transportiert wird, bis ins Willy-Brandt-Haus, bis in den Bundestag. Das ist das Neue an der SPD. Die Macht der Funktionäre schwindet, der Einfluss der Basis wächst. Das ist eine gute Entwicklung, weil sie die SPD demokratischer macht.
Die Partei sollte die Basis mehr einbinden
Die Partei sollte die Chance nutzen, und die Basis mehr denn je einbinden. Nicht nur bei der Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin von Andrea Nahles. Sondern auch bei der programmatischen Selbstfindung, der Suche danach, wofür die Sozialdemokratie heute steht. Dazu braucht die Partei Ruhe und Zeit. Sie muss sich selbst ins Abklingbecken legen.
Deswegen ist ein Ende der Großen Koalition unumgänglich. Genug Sollbruchstellen gibt es, sei es der Klimaschutz, sei es die Rente. Sollte es zu Neuwahlen kommen, wird die SPD keine Lorbeeren ernten. Sie könnte sich aber in der Opposition neu sortieren und ein Profil entwickeln, sie könnte wieder als klar sozialdemokratisch erkennbare Politikangebote machen. Schlechter kann es nicht mehr werden.
Westfalen Blatt zum Nahles-Rücktritt
Andrea Nahles hat den Schlussstrich gezogen. Sie wollte Klarheit und hat sie bekommen. Ihr Rücktritt von allen Ämtern ist konsequent und verdient Respekt. Die Auswirkungen sind jedoch gravierend - für die SPD, die Große Koalition und die politische Stabilität in Deutschland insgesamt. Einer möglichen Abwahl als Fraktionschefin ist die 48-Jährige zuvorgekommen. Besser macht es das für die SPD nicht. Dem tagelangen Machtkampf voller Intrigen und Indiskretionen folgte nun das Ende.
Rückhalt in der Partei fehlte Nahles
Andrea Nahles zog die Reißleine, weil ihr der Rückhalt der Partei gefehlt hat. Den hatte sie aber schon längst nicht mehr. Spätestens nach der Europawahl und dem katastrophalen Abschneiden in Bremen war sie bereits in höchster Not. Von Putsch war zuletzt die Rede, aber niemand traute sich aus der Deckung. Die aktuelle Forsa-Umfrage hat das Fass möglicherweise zum Überlaufen gebracht. Die sah die SPD nur noch bei zwölf Prozent.
Partei wurde Glaubwürdigkeit und Akzeptanz entzogen
Das Problem der SPD ist nicht nur Andrea Nahles, sondern die Partei selbst. Sie ist seit Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie weiß nicht, wofür sie steht, wohin sie will und wer sie eigentlich ist. Die internen Querelen, Machtkämpfe und Personaldiskussionen, aber auch ständige Störfeuer wie die von Juso-Chef Kevin Kühnert, haben der Partei Glaubwürdigkeit und Akzeptanz entzogen. Wenn dann auch noch Sigmar Gabriel seine Partei zu einer "Entgiftung" aufruft, dann weiß man, wie es um die Kommunikation der SPD bestellt ist. Die schlechte Performance hat die aus SPD-Sicht gute Sachpolitik übertüncht. Beispiele sind Themen wie der Mindestlohn, die Mütterrente, das Kita-Gesetz, die Parität bei den Kassenbeiträgen oder die besseren Bedingungen für Paketzusteller.
Neuwahlen würden die SPD in den Abgrund stürzen
Zum schlechten Stil innerhalb der SPD und auch zum Fehlen von Sympathieträgern an der Spitze kommt erschwerend hinzu, dass die Partei sich in den Fängen der Großen Koalition herumquält. Erst wollte sie nicht rein, jetzt will oder kann sie möglicherweise nicht wieder raus. Kündigt die Partei die GroKo auf, würde das zu Neuwahlen im Herbst führen. Aber dieses Szenario würde die SPD noch tiefer in den Abgrund stürzen, als es schon jetzt der Fall ist. Zudem würde die Partei alleine für das Scheitern der Regierung verantwortlich gemacht. Besser wäre für die SPD ein geordneter Rückzug in die Opposition, aber der ist eben nicht so leicht möglich. Vermutlich nicht einmal die Grünen halten Neuwahlen noch in diesem Jahr für richtig - selbst wenn sie dann vielleicht stärkste Partei würden. Aber dieser großen Verantwortung wollten und könnten die Grünen niemals gerecht werden. Immerhin müssten sie nach aktuellen Umfragen sogar darauf vorbereitet sein, möglicherweise die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler zu stellen.
Die Lage der SPD ist ernst
Auch für die CDU käme das Ende der Großen Koalition zu einer falschen Zeit. Erstens aufgrund der jüngsten Europawahlergebnisse, zweitens wegen des Versprechens Angela Merkels, Kanzlerin bis 2021 bleiben zu wollen, und drittens, weil Annegret Kramp-Karrenbauers Beliebtheitswerte aktuell nicht gerade gut sind. Andrea Nahles ist zurückgetreten. Sie hat den Weg frei gemacht für einen Nachfolger, der im Herbst mit gleich drei historischen Landtagswahl-Niederlagen starten dürfte. Die Lage der SPD ist ernst - im Herbst könnte sie sehr ernst werden.
Mittelbayerische Zeitung Nahles fehlte der Rückhalt
Gerade einmal 13 Monate hat die erste Frau an der Spitze der ältesten Partei Deutschlands es dort ausgehalten. Als Andrea Nahles am Sonntag überraschend ihren Rücktritt sowohl vom Partei- als auch vom Fraktionsvorsitz der SPD ankündigte, ging, so könnte man also sagen, eine Ära zu Ende - wenn auch eine sehr kurze. Doch das Problem der SPD fing weder mit Nahles' Amtszeit an, noch wird es mit ihr enden. Ihr Rücktritt reiht sich ein in eine längere Geschichte sozialdemokratischen Scheiterns. Nahles übernahm den Vorsitz im April 2018, da steckte die Partei bereits tief in der Krise.
Niederschmetternde Wahlen
Die SPD hatte gerade die 20,5-Prozent-Klatsche der Bundestagswahlen hinter sich (minus 5,2 Prozent im Vergleich zu 2013), und sich unter Qualen in die erneute große Koalition gezwungen. Im Oktober folgten die niederschmetternden Landtagswahlen in Bayern (9,7, minus 11) und Hessen (19,8, minus 10,9). Die 15,8 Prozent bei den Europawahlen, die nun die Debatte um Nahles' Verantwortung für das Debakel auslösten, stehen also nicht allein, sondern sind Teil einer Entwicklung. Schwindende Glaubwürdigkeit, interne Machtkämpfe, schleppende Erneuerung - all das hängt keineswegs nur an einer Personalie.
Nahles hat Altlasten übernommen
Nahles hat Altlasten ihrer Vorgänger übernommen, und derer gibt es viele: Ganze neun Vorsitzende haben die Sozialdemokraten allein in dem Zeitraum verschlissen, in dem bei der CDU durchgängig Angela Merkel die Geschäfte führte. Nahles ist es nicht gelungen, das Absacken aufzuhalten. Nun macht sie kurzen Prozess. Ihre plötzliche Rücktrittsankündigung hat auch etwas Trotziges an sich. Als wolle sie ihren internen Gegner zurufen: Dann macht es doch besser! Gut gemacht hat Nahles selbst es vergangene Woche sicherlich nicht.
Die Parteispitze kreist um sich selbst
Am Montag, dem Tag nach den Wahlen, hatte sie bereits angekündigt, die Wahl zum Fraktionsvorsitz vorzuziehen. Nahles wollte so ihre Kontrahenten im schwelenden Machtkampf aus der Deckung zwingen. So weit die Polit-Taktik. Was bei Bürgern und der eigenen Basis aber vor allem ankommt: Die Parteispitze kreist um sich selbst. Dabei gibt es drängende Probleme: die Klimakrise und die Frage, wie wir Emissionen verringern und zugleich die Energieversorgung sicherstellen können; eine Wohn- und Miet-Misere, die immer mehr Menschen aus ihrem Umfeld verdrängt; die wachsende soziale Ungleichheit.
Menschen erwarten konkrete Lösungsansätze
Die Menschen erwarten konkrete Lösungsansätze und einen politisch gangbaren Weg in die Zukunft. Doch anstatt inhaltliche Defizite aufzuarbeiten, hat die SPD-Spitze wieder eine leidige Personaldebatte entfacht, die Nahles nun zum Eskalieren bringt. Wieder nichts aus der Wahlschlappe gelernt. Die Wählerschaft merkt sich das. Es bleibt die Frage, wie es weitergeht - in der SPD und mit der großen Koalition. Bislang hat sich noch niemand öffentlich für Nahles' Nachfolge in Stellung gebracht, weder für Partei- noch für Fraktionsvorsitz.
Neuer Name löst das Problem nicht
Die Rede ist von Olaf Scholz, Achim Post, Manuela Schwesig, Malu Dreyer, Stephan Weil oder Kevin Kühnert. So weit die Spekulationen. Sicher ist jetzt schon, dass ein neuer Name allein das Problem nicht lösen wird. Und sehr wahrscheinlich ist auch, dass der Abwärtstrend der SPD sich bei den Landtagswahlen im Herbst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen weiter fortsetzt. Kein leichter Start also für den oder die Neuen an der Parteispitze, und kein Wunder, dass niemand munter vorprescht. Beim Koalitionspartner macht sich Nervosität breit. Denn Nahles' Rücktritt trifft die CDU zur Unzeit. Sie ist selbst mit der Aufarbeitung der herben Wahlschlappe, mit programmatischen und personellen Fragen beschäftigt. Will man keine weiteren Verluste riskieren, werden weder CDU noch SPD Neuwahlen anstreben. Alle Zeichen stehen also auf ein Weiter-so. Noch ist keine Besserung in Sicht.
pm, ots