Herr Seidendorf, hat Emmanuel Macron die aktuellen Krawalle in Frankreich mit seiner Politik provoziert?
STEFAN SEIDENDORF: Ja, aber nicht in dem Sinne, dass er als „Präsident der Reichen“ die weniger Reichen mit seinen Maßnahmen über die Maßen finanziell beansprucht hätte. Vielmehr bricht sich etwas Bahn, das ich als das „französische Paradox“ bezeichne. Ein überragender Wunsch nach (politischem) Wandel, der aber bitte dazu führen soll, dass alles so bleibt wie es ist und das liebgewonnene Lebensgefühl der Franzosen keiner Veränderung unterworfen wird.
Was hätte Macron denn anders machen können?
SEIDENDORF: Er selbst wirft sich vor, dass er seine Politik besser hätte erklären und vermitteln müssen. Daran hapert es ohne Zweifel, wenn es etwa darum geht, die vielen verschiedenen Einzelmaßnahmen, die zu einem „ökologischen Umbau des Steuersystems“ führen sollen, in einen größeren Zusammenhang zu stellen und ihnen Sinn zu verleihen.
Und was noch?
SEIDENDORF: Auch die Umgestaltung etwa der sozialen Sicherungssysteme ist so tiefgreifend, dass der Sinn dieser Reformen und ihre langfristige Konsequenz, der Einstieg in ein ganz neues Wohlfahrtsmodell, ausführlich erläutert und vermittelt werden muss. Zum anderen ist er in die Falle der politischen Opposition getappt, indem er sich nicht gegen das Etikett des „Präsidenten der Reichen“ gewehrt, sondern sogar für sich in Anspruch genommen hat, auf diejenigen Kräfte zu zählen, die über genügend flüssiges Kapital verfügen, um in Frankreich zu investieren.
Welche sozialpolitischen Akzente hat er gesetzt?
SEIDENDORF: Wegen fehlender Verteilungsspielräume setzt Macron in der Sozialpolitik Prioritäten. So setzte er nach seinem Amtsantritt durch, dass in Grundschulen in Brennpunktbezirken die Klassengröße auf zwölf Schüler begrenzt wird. Für Frankreichs Bildungsbürokratie eine revolutionäre Maßnahme. Sie hat jedoch unter anderem zur Folge, dass in den „normalen“ Schulen und Vorschulen bis zu 30 Kinder pro Lehrkraft unterrichtet werden. Für die „normalen“ Familien verstärkt sich damit im Alltag weiter das Gefühl einer Bildungskrise und -misere, gegen die der Präsident, entgegen seiner Ankündigungen, nichts unternommen hat.
Also hat Macron schon seinen Zenit erreicht?
SEIDENDORF: Schon gibt es Gerüchte, dass sich Macron, wie auch Sarkozy und Hollande, darauf einstellt, nur eine einzige Amtszeit zu absolvieren. Damit wären also alle Präsidenten, die nach Jacques Chirac eine fünfjährige Amtszeit angetreten haben, an einem zweiten Mandat gescheitert. Nachdem der „Zauber des Neuen“ verschwunden ist, zeigt sich zunehmend, dass auch Macron auf die französische Beamten- und Verwaltungselite angewiesen ist, um seine komplexen und weitreichenden Reformen umzusetzen. Mehr noch, er entpuppt sich zunehmend als ein Vertreter genau jener französischen, oder genauer: Pariser, Eliten, gegen die sich die Wut der Bevölkerung richtet und die sie für ihre Schwierigkeiten mit einem immer komplizierteren Alltag verantwortlich macht.
Nicht wenige halten Macron für arrogant und beratungsresistent. Stimmt diese Einschätzung?
SEIDENDORF: Bei jemandem, dem es in seinem Alter und mit seinem Hintergrund gelungen ist, in das höchste Staatsamt gewählt zu werden, können wir ein gesundes Maß an Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten zugrunde legen. Gleichzeitig werden ihm jede Menge gebetene und ungebetene Ratschläge zuteil. Davon dürften viele, etwa die von den ehemaligen Präsidenten Sarkozy und Hollande vorgebrachten, nicht frei von Hintergedanken geäußert werden.
Und mit der Presse steht er mittlerweile auch auf Kriegsfuß ...
SEIDENDORF: Auch im Pariser Mediensystem gab es einträgliche Seilschaften und Verbindungen zwischen Politik und Journalisten, die mit Macrons Reformen ihr Ende gefunden haben. Auch hier gibt es also keine geringe Zahl an Akteuren, denen jede Kritik am Präsidenten und an seinem Regierungsstil recht ist.
Wurde Macron von zu vielen überschätzt?
SEIDENDORF: Viele der Erwartungen, die mit seiner Wahl verbunden waren, konnte er unmöglich erfüllen. Der Wunsch nach Veränderung in der Bevölkerung war immerhin so massiv, dass er das gesamte französische Parteiensystem zum Einsturz brachte. Der erhoffte Wandel sollte zudem sehr schnell, am besten sofort, zu spür- und zählbaren Veränderungen und Verbesserungen führen, während Macrons Programm zwar auf tiefgreifende, vor allem jedoch auch strukturelle, langfristig sich entfaltende Reformen setzt. mei