"Die Köpfe wechseln, die Missstände bleiben"

Herr Leudesdorff, hat Sie der Rücktritt von Andrea Nahles überrascht?

 

LINO LEUDESDORFF: Nein. Ich habe im Herbst vorausgesagt, dass wir die Europawahl verlieren werden und Nahles aus diesem Grund ihr Amt verlieren wird.Ich war nie ein Fan von Andrea Nahles, aber die fortschreitende Erosion der SPD ist nicht allein ihr Verdienst. Grund ist ein jahrelanges, kollektives Versagen der Parteiführung. Der Parteichef ist, wie so oft, das Bauernopfer, um Konsequenzen für die anderen Vorstandsmitglieder oder die große Koalition zu minimieren.

 

 

Was sollte der „Eiertanz“ …? Zuerst wollte Andrea Nahles eine Kampfabstimmung um den Fraktionsvorsitz, dann zieht sie sich plötzlich aus allen politischen Ämtern und der Politik zurück. Erklären Sie uns das?

 

LEUDESDORFF: Sie wollte Ihre Gegner stellen und damit ihr politisches Überleben sichern. Als Sie merkte, dass der konservative Flügel der Partei mit seinem Umsturzplänen Erfolg haben könnte, hat sie kapituliert.

 

Was sagt der Rücktritt über den Zustand der SPD aus?

 

LEUDESDORFF: Die Köpfe wechseln, die Missstände bleiben.

 

Wird ihre Partei wieder auf die Beine kommen?

 

LEUDESDORFF: Das entscheidet sich in den nächsten Monaten. Bringt diese Partei den Mut auf, einen grundlegend neuen Kurs einzuschlagen? Es braucht jedenfalls einen Vorstand, der diesen Umschwung glaubwürdig repräsentiert. Der bereit ist, diese Partei neu aufzustellen und der sich traut die Basismitglieder ebenso wie ganz normale Bürger mitdiskutieren sowie entscheiden zu lassen. Gelingt dies, sehe ich noch Chancen.

 

Was ist aus Ihrer Sicht alles falsch gelaufen, dass die SPD in einem so desolaten Zustand ist?

 

LEUDESDORFF: Die SPD ist inhaltlich und personell im Bund ausgebrannt. Die große Koalition wirkte dazu wie ein Brandbeschleuniger.

 

Sollte die Partei an der großen Koalition festhalten?

 

LEUDESDORFF: Nein.Egal ob die GroKo durch einen SPD Parteitag oder final durch die Wähler an der Urne beendet wird – für die Sozialdemokratie beginnt dann die mühsame Aufbauarbeit.

 

Greift die Partei die falschen Themen auf? 

 

LEUDESDORFF: Ja, denn SPD hat kein Zukunftskonzept, keine Vision, die begeistert oder Antworten liefert. Wir stellen das zweite Mal in Folge die Umweltministerin und verfehlen die Klimaziele. Wer entscheidet denn in einer Demokratie wie wir leben wollen, der Konzern der den Diesel baut, oder die wir die Luft einatmen müssen? Wir reden bei jeder Wahl von sozialer Gerechtigkeit, aber die Ungleichheit besonders bei Vermögen wird nicht einmal angetastet. Es geht darum, wie wir die Gesellschaft zusammenhalten. Wirtschaftlich, sozial aber auch kulturell. 

 

Was sind denn nun Ihre Forderungen an die Partei?

 

Ich wünsche mir Unterscheidbarkeit und Klarheit. Ich und viele andere sind der SPD beigetreten, weil wir die Welt und unser Land verändern wollen. Die skandinavischen Sozialdemokraten stehen für einen starken Staat mit hohen Investment in Bildung und Infrastruktur. Es gibt ein starkes soziales Netz, dass dich auffängt und wieder aufrichtet statt dich zu bestrafen. Auch wenn sie nicht mehr in der Regierung sind: Die österreichischen Sozialdemokraten haben gezeigt, dass es eine gute Rente für alle geben kann, wenn jeder einzahlt. Die spanischen und portugiesischen Sozialdemokraten haben Bündnissen mit den Konservativen die kalte Schulter gezeigt und an Profil gewonnen. Hier kann man sich ein Beispiel nehmen.

 

Viele Konservative in Ihrer Partei und ihre medialen Unterstütze wollen, dass die SPD wieder in die „Mitte“ rückt. Der richtige Platz?

 

LEUDESDORFF: Ich denke die Wähler haben Ihrer Zufriedenheit mit konservativen Sozialdemokraten wie Steinbrück, Steinmeier, Scholz, Schulz und wie sie alle heißen bereits ausreichend kundgetan. Nach 20 Jahren Mitte-Kurs könnten wir ja mal was Neues ausprobieren. In anderen Ländern hilft das.

 

Was heißt das konkret?

 

LEUDESDORFF: Wir leben in einer Zeit, in der die Wähler Polarisierung fordern. Sie verlangen „klare Kante“ und Unterscheidbarkeit. Das geht am besten mit einem klaren linken Profil für mehr Sozialstaat. Wer sein Profil schärft kann auch nicht mehr jedermann gefallen, das müssen wir aber auch gar nicht. Es geht darum, das Leben vieler Menschen zu verbessern und den Stillstand der Ära Merkel zu überwinden. Meine Partei ist manchmal so furchtbar altbacken und reagiert nur auf Trends, statt sie auszulösen oder auch nur ihre Chancen zu erkennen. Soziale Netzwerke sind beispielsweise nicht bloß Bedrohung, sondern die einmalige Chance, sich direkt und ohne Umweg über Medien am politischen Partizipationsprozess zu beteiligen.

 

Da ist aber Olaf Scholz ganz anderer Meinung. Er sagte die Chancen stünden gut für die SPD, bald stärkste Partei zu werden. Ein Witz?

 

LEUDESDORFF: Der Mann schafft es auch ohne Gesangseinlage, dass ich mich schämen muss. Für so etwas werde ich am Wahlkampfstand ausgelacht. Um uns das Vertrauen der Wähler zu verdienen, müssen wir einiges tun. Das wird nicht von allein kommen oder mit einer flotten Kampagne.

 

Und ihr Genosse Karl Lauterbach sagt, die SPD könne sich nur schlecht verkaufen.

 

LEUDESDORFF: Er sagte auch, die GroKo sei unbeliebt. Wie etwas verkaufen, was keiner will? Das Marketing von Willy Brandt war besser. Aber er hatte auch mehr anzubieten. Aufstieg durch Bildung, steigende Einkommen und die Aussöhnung mit Osteuropa. Das beste Marketing ersetzt nicht das Produkt. Die Legende, wenn wir einig sind, aufhören zu diskutieren, das Marketing verbessern und ganz viele Daumen hoch auf Beiträge des Parteivorstandes geben, ist Humbug. Das Gegenteil ist richtig: Die Diskussion befeuern, Bürger und Parteimitglieder, ja die ganze Gesellschaft in den politischen Prozess involvieren und leidenschaftlich mitdiskutieren. Der Habeck macht das ganz gut, wochenlang spricht das Land über seine Thesen. mei

 

"