Walter Lübcke: Ein politischer Mord?

Kommentare deutscher Zeitungen zum Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

 

 

Berliner Morgenpost

 

Unter den unsäglich vielen Verschwörungstheorien wurde gleich nach dem Mord an Walter Lübcke der Verdacht geäußert, dass er Opfer eines ideologischen Hass-Mörders gewesen sein könnte. Ein ungeheurer Verdacht, der sich erhärtet hat. Der Generalbundesanwalt hätte die Aufklärung andernfalls bei den hessischen Behörden belassen.

 

Das hat Signalcharakter

 

Wenn er Ermittlungen an sich zieht, hat es Signalcharakter: In Karlsruhe geht man von einer politischen Gewalttat aus, von einem Einzeltäter mit rechtsextremistischem Hintergrund. Halten wir zunächst die Fakten fest: Wie so viele Menschen, die Flüchtlingen geholfen und Angela Merkels "Wir schaffen das" beherzigt haben, wurde der Regierungspräsident in Kassel häufig und heftigst angefeindet, bis hin zu Morddrohungen.

 

Würde über den Tod hinaus verletzt

 

Seine Würde wurde sogar über den Tod hinaus verletzt, nachdem viele User im Internet ihre Freude darüber geäußert hatten. Gegen den Mann, der jetzt verhaftet wurde, spricht eine DNA-Spur. Zum Bild passt, dass er polizeibekannt, gewalttätig war und Kontakte zum rechten Milieu hatte. Das gibt dem Fall Lübcke vollends eine sehr politische und zugleich sehr unheilvolle Wendung. Seit den Verbrechen der NSU-Terrorbande kann sich keine Sicherheitsbehörde leisten, das kriminelle (Gewalt-)Potenzial der Szene zu unterschätzen.

 

Polizeiversagen darf sich nicht wiederholen

 

Schon die relativ hohe Zahl von "offenen", also bislang nicht vollstreckten Haftbefehlen, ruft ein Unbehagen hervor. Ein Polizeiversagen darf sich nicht wiederholen. Gerade der Generalbundesanwalt hat in den vergangenen Jahren keinen Zweifel aufkommen lassen, dass er sensibilisiert ist. Das hat er mehrfach bewiesen. Das belegt zum einen der Fall des Bundeswehroffiziers Franco A., wo die Beweislage freilich dünn ist; es gibt eher Indizien als handfeste Beweise. Zum anderen sind da die Ermittlungen gegen die mutmaßliche Terrorgruppe "Revolution Chemnitz", einem Führungskader rechter Hooligans, Skinheads, Neonazis und Angehörigen der Rechtsrock-Szene.

 

Szene ist nicht nur verbalradikal

 

Hier dürfte eine Anklage nur eine Frage der Zeit sein. Dass die Szene nicht nur verbalradikal ist, zeigten in der jüngsten Vergangenheit bereits die Messerattacken auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und auf ihren Kollegen aus dem sauerländischen Altena. Es gibt durchaus ein Muster, das zum Fall Lübcke passt. Indes, ein Muster, ein Verdacht, eine Verhaftung, eine Spur, ja, die beste, differenzierteste Anklage ist kein Schuldspruch. Die Beweiswürdigung obliegt dem Gericht.

 

Mord kann aus anderen Motiven erfolgt sein

 

Ein gewissenhafter Richter muss jeden Stein umdrehen. Im Rechtsstaat muss jeder so lange als unschuldig angesehen werden, bis er von einem Gericht rechtskräftig verurteilt worden ist. Die Unschuldsvermutung gilt auch für den Verdächtigen im Fall Lübcke. Es kann sich herausstellen, dass der 45-Jährige unschuldig ist; oder, dass der Mann zwar zweifelsfrei als Täter überführt wird und Kontakte zu Neonazis hat, der Mord gleichwohl aus anderen Motiven verübt worden ist.

 

Vieles scheint rätselhaft und bedarf der Aufklärung

 

Vieles erscheint rätselhaft und bedarf der Aufklärung, im Schuldfall zum Beispiel schon noch die Frage, ob der Verdächtige allein gehandelt hat oder als Teil eines Netzwerks. Hatte er Komplizen? Im Hinterkopf hat man da unweigerlich den NSU-Terror. Dass Grüne, FDP und Linke umgehend eine Sondersitzung des Innenausschusses im Bundestag gefordert haben, ist ein Reflex, den sie besser unterdrückt hätten. Zu diesem frühen Stadium können die Ermittler nicht viel sagen. Man muss den Fall nicht extra politisieren. Sollte sich zweifelsfrei herausstellen, dass Lübcke Opfer eines politischen Mordes war, nimmt sein Fall eine neue Dimension an - aber erst dann, nur dann. Miguel Sanches

 

Kölnische Rundschau

 

Der Mord an Walter Lübcke hat vermutlich einen rechtsextremistischen Hintergrund. Das hat der Generalbundesanwalt jetzt mitgeteilt, nachdem die Ermittler lange im persönlichen Umfeld des Ermordeten gesucht hatten. Der Kasseler Regierungspräsident und frühere CDU-Parlamentarier ist, wenn man die zurückhaltende Zählung des Bundeskriminalamts fortführt, seit 1990 das 84. Opfer eines rechtsextremistischen Mordanschlags.

 

Es gibt einen tiefbraunen Bodensatz

 

Eine Terrorgruppe im Hintergrund hat die Bundesanwaltschaft nicht finden können. Aber es gibt einen tiefbraunen Bodensatz, in dem der mutmaßliche Täter sich offenbar bewegte. Zur Hassfigur wurde Lübcke aber nicht nur für ausgemachte Rechtsextremisten, sondern bis weit in die AfD hinein. Seinen denkwürdigen Auftritt von 2015 hat seine frühere Parteifreundin Erika Steinbach, heute AfD-Sympathisantin, in diesem Frühjahr erneut, übel verzerrt, auf Facebook erwähnt.

 

Mit der Partei keinen Staat zu machen

 

Mit den Folgen will sie natürlich nichts zu tun haben. Was hatte Lübcke wirklich gesagt? Als ausländerfeindliche Krakeeler über diesen "Scheiß Staat" herzogen, hatte er sie daran erinnert, dass es jedem freisteht, unseren Staat zu verlassen, wenn er seine Werteordnung nicht billigt. Die Werteordnung unseres Staates: Das ist der Punkt. Die Hetze gegen einen im besten Sinne konservativen Politiker und der Mord an ihm richteten sich gegen unseren Staat als solchen. Der AfD-Funktionär aus Dithmarschen etwa, der Lübcke posthum verhöhnte, griff damit diesen Staat als Ganzes an. Und eine Partei, die diesen Mann nicht ausschließt, zeigt, dass mit ihr kein Staat zu machen ist. Raimund Neuß

 

Badische Zeitung

 

Als Walter Lübcke 2015 bedroht und öffentlich für seine zivile Haltung geschmäht wurde, da ging kein Aufschrei durchs Land. Die Ungeheuerlichkeit dieses Hasses ist erschreckend normal geworden. Und genauso die Gefahr, die darin liegt.

 

Lange Vorgeschichte als Neonazi

 

Angesichts der Vorgeschichte war es allerhöchste Zeit, dass der Generalbundesanwalt den Fall an sich gezogen hat. (...) Und trotzdem dauerte es zwei Wochen, bevor bei der Polizei liegende DNA-Spuren zu einem Verdächtigen führten, der offenbar ein Vierteljahrhundert Vorgeschichte als einschlägiger Neonazi in unterschiedlichen Netzwerken hat. Katja Bauer

 

Westfalen Blatt

 

Wer schon Anfang des Monats gefordert hatten, dass dieser Fall nach Karlsruhe abgegeben wird, könnte sich im Recht fühlen. Wer da schon spekuliert hatte, dass man den Täter unter Rechtsextremisten suchen müsste, könnte sich bestätigt sehen. Doch offenbar gab es mindestens eine ernst zu nehmende andere Spur, die ja auch zu der Festnahme an der Nordsee führte.

 

Keinen Anhaltspunkt für Fehler der Ermittler

 

Und da nicht bekannt ist, wie der jetzt offenbar erfolgreiche DNA-Abgleich verlief, gibt es bislang keinen Anhaltspunkt, dass die Ermittler seit der Tat am 2. Juni einen Fehler gemacht hätten, der die Aufklärung verlangsamte. Insofern sollten wir zunächst einmal auf die Arbeit der Behörden vertrauen. So verständlich die Ungeduld auch ist, alles über den mutmaßlichen Täter und sein Motiv wissen zu wollen.

 

Neues Deutschland

 

Nach bisherigen Erkenntnissen ist es wahrscheinlich, dass der CDU-Politiker Walter Lübcke wegen seiner flüchtlingsfreundlichen Haltung von einem Neonazi erschossen wurde. Das rechte Morden geht damit weiter. Auch wenn viele Fragen offen sind, so lassen sich einige Aspekte festhalten: Erstens: Der Mord an Lübcke ist kein Beginn. Seit 1990 wurden etwa 200 Menschen in Deutschland durch rechte Gewalttäter umgebracht.

 

Rechter Terror wird verharmlost

 

Auch mit dem NSU hat das Morden weder angefangen noch aufgehört. Dennoch: Die aktuelle gesellschaftliche Stimmung wird von Rechtsradikalen verschiedener Generationen verstärkt als Aufforderung zum Handeln - und Töten - wahrgenommen. Die AfD trägt für diese Stimmung eine Verantwortung. Problematisch sind aber auch die Konservativen und "Extremismus"-Verfechter, die das Problem des rechten Terrors seit Jahren verharmlosen.

 

Netzwerke im Fall Lübcke gehören restlos aufgeklärt

 

Sei es aus Ignoranz, sei es, um Rassisten nicht zu vergraulen, sei es, weil sie selber welche sind. Zweitens: Weder unsinnige RAF-Vergleiche noch Thesen vom verwirrten Einzeltäter sind jetzt hilfreich. Die extrem rechten Netzwerke im Fall Lübcke und darüber hinaus gehören endlich restlos aufgeklärt und zerschlagen. Das beinhaltet auch die Verstrickungen staatlicher Behörden. Drittens: Statt weiterer Dialogangebote für Rechtsaußen braucht es nun einen breiten wehrhaften Antifaschismus. Und einen gesellschaftlichen Aufschrei, der anhält. Denn wer weiß, wer noch alles auf den rechten Todeslisten steht.

 

 

Rheinische Post

 

Es ist richtig, dass der Generalbundesanwalt im Mordfall des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke die Ermittlungen an sich gezogen hat. Damit unterstreicht die Strafverfolgung, dass es sich hier um ein Verbrechen handelt, das eine besondere Aufmerksamkeit nötig hat. Was sich hier verdichtet, wirft ein grelles Licht auf den Zustand der Bundesrepublik im Jahr 2019. 

 

Einzelfallklärung reicht in dem Fall nicht aus

 

Der Chef einer Bezirksregierung wird wegen migrationsfreundlicher Überzeugungen über Jahre angefeindet, mit wüsten Drohungen überzogen - und dann erschossen. Wenn es sich bestätigt, dass die Anfeindungen und Mordmotiv aus demselben rechtsextremistischen Sumpf gekommen sind, reicht die Einzelfallklärung nicht aus. Dann ist mit besonderem Nach- und Fahndungsdruck eine breite Schneise durch diesen Sumpf zu ziehen, um das Umfeld des Täters auf mögliche Mittäter, Mitwisser und Sympathisanten freizulegen. 

 

Toleranz ist eindeutig überschritten

 

Die mittel- und unmittelbare Tatbeteiligung schnellstmöglich aufzuklären, ist jedoch auch nur der erste Schritt. In einem zweiten geht es darum, das Bewusstsein dafür zu schärfen, was dieser Staat und was diese Gesellschaft als Meinungsäußerung tolerieren, was nicht akzeptiert werden kann und was strafbar ist. Die Freiheit, seine Meinung zu sagen, ist unerlässlich für die Demokratie. Aber wo sie genutzt wird, ein Klima der Angst zu erzeugen, gar zur Ermordung von Repräsentanten dieses Staates aufzurufen, ist die Toleranz eindeutig überschritten.

 

Fehlentwicklungen müssen gestoppt werden

 

Dann ist es nicht mehr weit bis zu Tendenzen, die vor hundert Jahren die Atmosphäre in der Weimarer Republik zu vergiften begannen. Zudem sollten die Staatsanwaltschaften sich die Äußerungen zu Lübcke im Internet genau anschauen. Was strafbar ist, soll auch bestraft werden. Diese Fehlentwicklung muss jetzt gestoppt werden. pm, ots