Herr Ziegler, rechtsterroristische Netzwerke in der BRD verunsichern zunehmend antifaschistische, teilweise selbst bürgerliche Kreise immer mehr. Den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der sich für die Rechte Geflüchteter eingesetzt hatte, soll ein Neonazi verübt haben. Wie groß ist die Gefahr, die von diesen Gruppierungen ausgeht?
JEAN ZIEGLER: Für die offene Gesellschaft ist der Rechtsextremismus besonders gefährlich. Im besonderen Maße auch für Deutschland, der wichtigsten Demokratie auf dem europäischen Kontinent und der drittstärksten Wirtschaftsmacht der Welt. Der Mord an Walter Lübcke ist der Schlüsselmoment gewesen. Ein Beispiel, dass hier Mörder am Werk sind. Um sie zu bekämpfen, hilft nur beinharte Repression.
Extrem rechten Kräften gelingt es derzeit offenbar, vergleichsweise viele Menschen von ihren Ideologien zu überzeugen. Wie funktioniert das?
ZIEGLER: Historisch betrachtet, arbeitet die Rechte in erster Linie mit einer Methode: Der Sündenbocktheorie. Sie sagen den Menschen, dass es ihnen schlecht geht und ihre Arbeitsplätze bedroht seien. Schuld daran seien die Fremden, die Ausländer, die Flüchtlinge. Sie bekämen vom Staat alles umsonst. So werden die Flüchtlinge zur Ursache für die Probleme der arbeitenden Menschen gemacht. So einfach ist der „Sündenbock“ ideologisch konstruiert.
Wenn es nicht der „Sündenbock“ ist, wer ist es dann?
ZIEGLER: Verantwortlich für die soziale und ökologische Verunsicherung der Menschen ist der Finanzkapitalismus. Wenn es nicht gelingt, die Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals zu brechen und andere Normen zu setzen – wie zum Beispiel Arbeitsplatzsicherheit, ehrliche Mitsprache und Gemeinschaftsinteresse –, dann entsteht eine große Gefahr für uns alle. Gemäß der Weltbank haben letztes Jahr die 500 größten transkontinentalen Privat-Konzerne – alle Sparten zusammengenommen; Banken, Industrie, Dienstleistungen, usw. – 52,8 Prozent des Weltsozialproduktes kontrolliert. Dabei geht es um alle in einem Jahr produzierten Reichtümer. Sie haben eine Macht, wie es nie ein Kaiser, ein König, ein Papst gehabt hat. Sie funktionieren nach einem einzigen Prinzip: der Profitmaximierung in möglich kürzester Zeit, zum jeden menschlichen Preis.
Können Sie das veranschaulichen?
ZIEGLER: Die kapitalistische Wirtschaftsweise ist dynamisch und innovativ. Die Schweizer Großbank UBS kommuniziert heute mit ihrer Filiale in Tokio in Lichtgeschwindigkeit. Durch das Prinzip der Profitmaximierung hat dieses Wirtschaftssystem unglaubliche Reichtümer geschaffen, aber diese monopolisiert und für den Rest der eine kannibalische Weltordnung geschaffen.
Nennen Sie ein Beispiel für diese „kannibalische Weltordnung.
ZIEGLER: Alle fünf Sekunden verhungert laut Vereinten Nationen auf unseren Planeten ein Kind. Dabei könnte die weltweite Landwirtschaft problemlos 12,3 Milliarden Menschen ernähren. Zurzeit sind es rund 7,6 Milliarden Menschen, die auf der Erde leben.
Auf dem G-20-Gipfel trafen sich zuletzt die Vertreter großer Wirtschaftsnationen in Osaka. Kann man von solchen Zusammenkünften positive Impulse für die Weltbevölkerung erwarten?
ZIEGLER: Die Politiker, die dort versammelt waren, sind reine Befehlsempfänger der weltbeherrschenden Finanzoligarchien. Ein Beispiel für diese Abhängigkeiten: Im Ost-Kongo befinden sich große Rohstoff-Vorkommen, wie Coltan, die für die Herstellung von Smartphones gebraucht werden. Die Menschen „bezahlen“ dort die Rohstoffe mit Kinderarbeit, Verstümmelungen und Missbrauch. Barack Obama hat in der letzten Phase seiner zweiten Amtszeit als US-Präsident ein Gesetz erlassen, das verhindern sollte, dass unter diesem Umständen Coltan aus dem Kongo in den USA in der Produktion verwendet wird. Die Minenbarone haben sofort Zeter und Mordio geschrien. Das Gesetz überlebte nur kurz. Am 3. Tag seiner Amtszeit hat Obamas Nachfolger Donald Trump das Gesetz aufgehoben.
Das passierte in den USA. Wie sieht es in Europa aus?
ZIEGLER: Der Menschenrechtsrat der UN will die multinationalen Konzerne endlich verpflichten, die Menschenrechte an allen Produktionsstätten zu beachten. Deutschland möchte das vehement nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel – die vermutlich kein schlechter Mensch ist – wird von diesen Konzerne gezwungen, diese Konvention zu bekämpfen. Anderes Beispiel: Beim G-8-Gipfel in 2011 in Cannes trat der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy vor die Presse und versprach, Frankreich werden sich dafür einsetzen, dass die Spekulation auf Grundnahrungsmittel weltweit verboten werden.
Was folgte auf diese Ankündigung?
ZIEGLER: Drei Wochen später hat Frankreich den Antrag zurückgezogen, weil Unilever, Nestle und Co. Sturm gelaufen sind. Die Konzerne argumentierten ausgerechnet mit der Behinderung des „freien Marktes“. Sarkozy war der gewählte Präsident der Französischen Republik, dennoch wurde er von den Konzernen in die Knie gezwungen. Diese Beispiele und viele andere beweisen zur Genüge, dass die großen Demokratien unter dem Diktat dieser Konzerne stehen.
Begeben sich Politiker ausschließlich in die Hände von Konzernchefs?
ZIEGLER: Nein. Donald Trump hat sich zum Beispiel auch in die Hände der israelischen Likud-Partei begeben. Mit ihrem Chef Benjamin Netanyahu, dem Ministerpräsidenten des Landes, hat sie den Iran zum Todfeind erklärt. Trump hat sich ohne Not auf die Seite des Likud gestellt. Zwar ist der Iran das Gegenteil eines Rechtsstaats – dort werden zum Beispiel Menschen an Autokränen aufgehängt –, aber trotzdem: Netanyahu arbeitet derzeit konsequent auf einen amerikanisch-iranischen Krieg hin. Deshalb muss eine weitere Eskalation in diesem Konflikt verhindert werden, obwohl Trump unter israelischen Druck steht. Aber es müssen jetzt Gespräche geführt werden. Die EU muss auf der Beibehaltung des Atom-Vertrages zwischen den USA und dem Iran bestehen.
Stattdessen Trump droht dem Iran lieber weiter. Was ist von dem US-Präsidenten generell zu halten?
ZIEGLER: Trump ist ein unberechenbarer Mann. Und das ist gefährlich für die Welt, weil er eine Abscheu vor multilateraler Diplomatie hat. Mit seiner „America First“-Doktrin ist er für mich ein Imperialist im klassischen Sinne. Letztlich ist Trump das Gegenteil eines Staatsmannes. Ein solcher muss nämlich auf Ausgleich aus sein. Und Trump tritt die Menschenrechte mit Füßen. Das sieht man zum Beispiel daran, wie er mit den Migranten aus Mittelamerika umgeht. Und das US-Gefangenlager Guantanamo auf Kuba besteht immer noch. Dort wird fürchterlich gefoltert. Donald Trump ist eine ganz gefährliche Figur.
Viele schimpfen täglich über Trump, die Leitmedien des US-amerikanischen, demokratischen Establishments bekämpfen ihn seit er im Amt ist und haben ihm gefühlt Tausende Verfehlungen nachgewiesen. Trotzdem ist er noch Präsident der USA und könnte demnächst wiedergewählt werden. Wie kann ein Milliardär, der mit einem viel jüngeren, ehemaligen Fotomodell verheiratet ist, bei Arbeitern so punkten?
ZIEGLER: Auch ein großer Teil des amerikanischen Volkes kann irren. Trump hat mit seiner protektionistischen Politik Arbeitsplätze in das Land zurückgeholt, das vergessen die amerikanischen Arbeiter nicht. Trotzdem fehlt es den Arbeitern am Klassenbewusstsein gegenüber der Oligarchie. Ihr Bewusstsein ist entfremdet. Und das ist einer der größten Erfolge der kapitalistischen Oligarchien: dass sie das Identitätsbewusstsein der Menschen zubetoniert haben.
Unter diesen Umständen dürften die Chancen auf eine Wiederwahl von Donald Trump gut stehen. Oder wie ist Ihre Meinung?
ZIEGLER: Leider glaube ich auch, dass Trumps Chancen, die Wahl zu gewinnen, gut sind. Das liegt auch daran, dass die demokratische Partei gespalten ist. Bernie Sanders ist der einzige, der es gegen ihn aufnehmen könnte. Wenn Sanders die Wahl gewinnen würde, wäre das ein unglaublicher Gewinn für die Welt. Dann würde die Macht der Konzerne gebrochen und eine Renaissance der Demokratie würde in den USA Einzug halten.
Sie haben vorhin gesagt, Donald Trump ist „eine gefährliche Figur“. Was ist von Wladimir Putin zu halten?
ZIEGLER: Man kann sicherlich das eine oder andere an der russischen Regierung kritisieren. Dennoch ist klar: Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland müssen aufgehoben werden. Es muss wieder zum Minsker-Abkommen zurückgekommen werden. Das wurde im Februar 2015 von den führen europäischen Ländern, der Ukraine und Russland unterzeichnet. Das Abkommen sollte eine Deeskalation und eine Befriedung der Ost-Ukraine herbeiführen.
Daraus wurde aber nichts ...
ZIEGLER: So ist es. Die NATO spielt im Ukraine-Konflikt auch keine gute Rolle. Ihre Einkreisungspolitik gegenüber Russland ist eine permanente Provokation für das Land.
Was muss also geschehen?
ZIEGLER: Die NATO muss aufgelöst werden. Sie erfüllt keinen Zweck mehr und ist heute ein Herrschaftsinstrument des amerikanischen Großkapitals. Ich erinnere daran, dass auch der Warschauer Pakt aufgelöst wurde. Dem Beispiel sollte der Westen folgen. Außerdem gehört Russland zum europäischen Kontinent. Die Sanktionen und Provokationen gegen das Land müssen deshalb aufhören und stattdessen sollte ein Übergang zu einer friedlichen Koexistenz angestrebt werden.
In Venezuela unterstützt Russland zusammen mit Kuba und China den vom Westen nicht gelittenen Staatschef Nicolas Maduro, dem Nachfolger des verstorbenen Hugo Chavez. Was passiert in Venezuela, das mal auf den Spuren des südamerikanischen Freiheitskämpfer Simon Bolivar wandeln wollte?
Venezuela erlebt heute das, was Chile 1973 erlebt hat. Der demokratische gewählte Präsident Salvador Allende wurde am 11. September 1973 von faschistischen Söldnern getötet. Allendes Ermordung sind Sabotageaktionen der CIA und Wirtschaftssanktionen der USA gegen Chile vorausgegangen. Hinzu kam ein landesweiter Streik der Lastwagen-Fahrer, die das Land lahmlegten. Das alles geschah unter der Ägide des US-Präsidenten Richard Nixon und seines Beraters Henry Kissinger. Der Grund: Die US-amerikanischen Großkonzerne wollten das chilenische Kupfer „zurückhaben“, das Allende ihnen „genommen“ hatte. Ähnliches spielt sich jetzt in Venezuela ab, das Land wird mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen überzogen und ein Clown ruft sich zum Präsidenten aus. So soll das Land sturmreif werden.
Mit Sanktionen und Attentatsversuchen haben sich die USA an Kuba die Zähne ausgebissen. Die Insel blieb die sozialistische „Bastion“ auf dem amerikanischen Kontinent. Jetzt öffnet sich Kuba in Sachen Tourismus, Handel und gibt seinen Bürgern die Möglichkeit, auch selbständigen Tätigkeiten nachzugehen. Ein Frevel?
ZIEGLER: Ich denke und weiß, dass die Kubaner am Sozialismus festhalten werden und wollen. Die Möglichkeit, dass sich Kubaner beispielsweise als Taxifahrer oder mit einem Kleingewerbe jetzt selbstständig machen können, begrüße ich. Aber die Menschen wissen auch, dass ihnen der Sozialismus vieles gebracht hat. Ich erinnere zum Beispiel an die vorzügliche medizinische Versorgung – einmalig in Lateinamerika – oder aber an die Agrarreform, an die Abschaffung der rassistischen Gesetze direkt nach dem Sieg der Revolution vor 60 Jahren. Auf diese Errungenschaften will in Kuba sicher niemand mehr verzichten.
In vielen europäischen Ländern wie der BRD haben linke Parteien und Bewegungen dagegen nur überschaubare Erfolge vorzuweisen. Oder wie sehen Sie das?
ZIEGLER: Die Revolte, der Aufstand des Gewissens, regt sich überall. Auch außerhalb der organisierten Linken. Gegenwärtig erleben wir eine Vervielfältigung der Widerstandsfronten, in allen Lebensbereichen. Ein neues historisches Subjekt entsteht: die weltweite Zivilgesellschaft. Sie vereinigt Millionen Männer und Frauen, die denkbar verschiedenen Völkern, Kulturen, sozialen Klassen und Altersgruppen angehören. Ein einziger Gedanke beseelt sie: „Ich bin der andere, der andere ist ich“. Immanuel Kant sagt: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“
Was bedeutet das?
ZIEGLER: Es gibt kein Zentralkomitee und keine Parteilinie! Die internationale Zivilgesellschaft setzt sich aus unzähligen Widerstandsfronten zusammen, die heute auf allen Kontinenten – an den überraschendsten Orten – gegen die kannibalische Weltordnung aktiv sind. Höchst unterschiedliche soziale Bewegungen repräsentieren sie: Via Campesina, ein weltweites Bündnis, die mehr als 120 Millionen Pächter, Kleinbauern und landwirtschaftliche Tagelöhner vertritt; die feministischen Bewegungen, die gegen Diskriminierung und Gewalt von Frauen kämpfen; Greenpeace, die versuchen, die Gefahren für Natur und Biodiversität abzuwenden; die Bewegung ATTAC, die die verheerenden Folgen des Spekulationskapitals eindämmt; Amnesty International, das sich überall in der Welt für ein Mindestmaß an Menschenwürde und Menschenrechte einsetzt; oder aber die Schüler-Bewegung „Fridays for Future“, die das Bewusstsein vieler Menschen für die Gefahren des Klimawandels geweckt hat. Es gibt Tausend andere Bewegungen – soziale, antikapitalistische, große und kleine, lokale und internationale. Zusammen bilden sie eine geheimnisvolle Bruderschaft der Nacht, die täglich an Macht gewinnt und gegen die kapitalistische Barbarei kämpft. Bereits heute sind viele Millionen Menschen erwacht. mei
Buchhinweis: Jean Ziegler, Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin, C. Bertelsmann 2019, 126 Seiten, 15 Euro
Personalie: Fast ist man geneigt, Jean Ziegler als Jahrhundertlegende der Linken zu bezeichnen. Der Schweizer Soziologie-Professor war mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir befreundet. Che Guevara „diente“ er als „Fahrer“ während einer UN-Konferenz. Seit Jahrzehnten kämpft Ziegler unermüdlich für die Menschenrechte. Mit dem Kapitalismus geht er schonungslos ins Gericht. Auch in unserem Gespräch nimmt er in dieser Hinsicht kein Blatt vor den Mund. Korrupte Regierungschefs nennt er „Kleptokraten“. Das hat für ihn sehr unangenehme finanzielle Folgen, denn er wurde deshalb schon zu hohen Schadensersatz-Summen. mei
Bildrechte: Dieter Hintermeier Foto: Dieter Hintermeier