"Martin Niemöller nicht pauschal verdammen"

Sie haben mit Ihrer Biografie am Image des protestantischen Säulenheiligen „gekratzt“. Warum haben sich nicht schon andere Biografen mit Niemöller kritisch auseinandergesetzt?

 

BENJAMIN ZIEMANN: Es mangelte gewiss an der Bereitschaft, sich wirklich kritisch mit Niemöller auseinandersetzen. Eine Rolle spielt aber auch, dass aus der Theologie kommenden Kirchenhistorikern die Kompetenz fehlt. Niemöller war sechs Jahre lang als Pfarrer von Dahlem aktiv, aber neun Jahre lang Offiziersanwärter und Offizier in der Kaiserlichen Marine – und wollte 1939 zum Dienst in der Kriegsmarine zurückkehren! Ohne gute Kenntnisse der deutschen Militärgeschichte lässt sich keine umfassende Biographie Niemöllers schreiben.

 

Würden Sie sagen, Niemöller hat sich vom Saulus zum Paulus entwickelt? Oder ist er sich doch am Ende des Tages immer treu geblieben?

 

ZIEMANN: Anders als diese Redewendung suggeriert, hatte Niemöller kein Damaskuserlebnis. Der Wandel seiner politischen Einstellungen – etwa weg vom Militarismus – vollzog sich schrittweise. Erst im hohen Alter, seit Ende der 1960er Jahre, entstand jener Niemöller, den wir heute zu kennen meinen: politisch ganz links, und ebenso rastlos wie radikal in seinem Einsatz für den Pazifismus. Selbst dann gab es Momente der Kontinuität: auch gegen Ende seines langen Lebens gefiel Niemöller das gesellige Beisammensein mit den alten Marinekameraden der Crew 1910. Und zu denen zählte eben auch Karl Dönitz.

 

Was hat Niemöller am „Nationalismus“ begeistert?  War diese Begeisterung für das Nationale im Protestantismus angelegt?

 

ZIEMANN: Niemöller wuchs in der nationalprotestantischen Deutungskultur des späten Kaiserreichs auf. Darin war die Nation von Gott gegeben, der schützend seine Hand über die Deutschen hielt. Der Erste Weltkrieg radikalisierte diese Vorstellung nochmals. Nach der Niederlage 1918 benutzte Niemöller den völkischen Nationalismus, um das Deutungsmuster intakt zu halten. Noch im Frühjahr 1945, nach sieben Jahren KZ-Haft, sah er die Befreiung auch und gerade als Niederlage der deutschen Nation.

 

Würden Sie Niemöller als Widerstandskämpfer gegen den NS bezeichnen? Oder war er ein Opportunist?

 

ZIEMANN: Niemöller war gewiss kein Widerstandskämpfer. Er hat das politische System des „Dritten Reiches“ nie öffentlich kritisiert. Noch 1936 hat er seine Dahlemer Gemeinde am 20. April dazu aufgefordert, für den „Führer“ an dessen Geburtstag zu beten! Gerade wenn man Widerstand als Solidarität mit den Anderen, von den Nazis Verfolgten versteht, leistete Niemöller keinen Widerstand. Denn für die vom Regime verfolgten Juden hat er sich nie eingesetzt. Er war aber auch kein Opportunist. Denn für seine Auffassung von der wahren, mit dem Bekenntnis konformen Kirche hat er sich unerschrocken und kompromisslos in Wort und Tat eingesetzt.

 

Warum hielt Niemöller auch nach dem Krieg noch an seinem Antisemitismus fest? Woher rührte diese?

 

ZIEMANN: Niemöller war seit dem Ende des Ersten Weltkrieges völkisch-rassistischer Antisemit. Erst 1932 hat er das Judentum auch in theologischen Kategorien gedeutet. Anders als seine Hagiographen behaupten, hat Niemöller auch nach 1945 seinen Nationalismus nicht alsbald aufgegeben. Antisemitische Vorurteile sind aber oft die Schattenseite eines Nationalismus, der in den Juden diejenigen sieht, welche die Nation untergraben. Zudem sah Niemöller die Deutschen als Opfer der Amerikaner, und konnte sein Ressentiment auf die angeblich von ‘den Juden’ dominierte Ostküste der USA projizieren.

 

Niemöller war nach dem Krieg wegen seiner Haltung zur deutschen Frage nicht beliebt. Wie konnte er dann dennoch so eine tragende Rolle in seiner Kirche spielen?

 

ZIEMANN: Niemöllers tragende Rolle in der – bis 1969 gesamtdeutschen – EKD war eigentlich schon Ende 1945 beendet. Im Rat der EKD war er weitgehend isoliert, und als Leiter des Kirchlichen Außenamtes bis 1956 war er oft umstritten. Seine ‘Hausmacht’ lag in der hessen-nassauischen Landeskirche, aber auch da wuchs über die Jahre der Widerspruch gegen seine politischen Eskapaden.

 

Was unterscheidet Niemöller von einem Mann wie Bonhoeffer?

 

ZIEMANN: Anders als Niemöller hat Bonhoeffer bereits im Frühjahr 1933 messerscharf erkannt, dass evangelische Christen aktive Solidarität mit den verfolgten Juden zeigen müssten. Im April 1933 schrieb Bonhoeffer: „Naive wie Niemöller glauben immer noch, die wahren Nationalsozialisten zu sein.“ Mit dieser Einschätzung hatte er recht.

 

An Niemöller erinnern noch viele Straßen und Einrichtungen in Deutschland. Ist dieser „Kult“ in der kritischen Nachlese immer noch berechtigt?

 

ZIEMANN: Heinrich Böll hat in seinen Briefen von der Ostfront 1941 von der Volksgemeinschaft geschwärmt. Und nach Böll ist eine wichtige Stiftung benannt. Niemöller hat sich in vielem zwanzig Jahre später politisch gewandelt, als gemeinhin angenommen wird, nicht 1945, sondern eher ab 1965. Aber anstatt Niemöller nun pauschal zu verdammen, sollte man lieber seine politischen Ambivalenzen korrekt zur Kenntnis nehmen. mei

 

Buchhinweis: Benjamin Ziemann, Martin Niemöller - Ein Leben in Opposition, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, 39 Euro

 

Personalie: Benjamin Zieman ist Professor für neuere deutsche Geschichte an University of Sheffied und Fellow der Royal Historical Society. Sein Buch „Gewalt im ersten Weltkrieg“ ist mit dem Preis Geisteswissenschaften International ausgezeichnet worden. mei