Herr Seidendorf, die Streiks gegen die Rentenreform Macrons legen Frankreich lahm. Hat der Präsident den Bogen überspannt?
STEFAN SEIDENDORF: Sozialreformen allgemein und Rentenreformen insbesondere sind überall ein heikles Thema, in Frankreich vielleicht sogar besonders. Es gibt nicht weniger als 42 verschiedene Rentensysteme mit unterschiedlich gestalteter Beitragsdauer und –höhe, unterschiedlichen Möglichkeiten des Vorruhestands usw. Macron ist angetreten, dieses Dickicht zu lichten und ein einziges, einheitliches System einzuführen. Diese Idee findet eine Mehrheit der Bürger auch gut. Gleichzeitig findet eine Mehrheit der Franzosen aber auch den Streik gerechtfertigt, es gibt also eine gewisse Paradoxie, die es für die Regierung nicht gerade leichter macht. Wenn Sie sich vorstellen, in Deutschland würde die Regierung vorschlagen, die Beamtenpensionen mit einem Schlag in das allgemeine Rentensystem zu überführen, und Sie würden die Reaktion darauf mit 42 multiplizieren, können Sie sich in etwa vorstellen, welche Unruhe Macrons Reformidee auslöst.
Was waren die Gründe, um die Rentenreform auf die Tagesordnung zu heben?
SEIDENDORF: Das französische Rentensystem ist sehr unübersichtlich und häufig sehr ungerecht. So kann ein Busfahrer in Paris wesentlich früher und mit höheren Bezügen in Rente, als einer in Amiens, ohne dass klar ersichtlich wäre, warum dies so ist – eines der Lieblingsbeispiele Präsident Macrons, um die Notwendigkeit einer Reform zu begründen. Außerdem ist auch das französische Rentensystem durch die Alterung der Gesellschaft unter Druck geraten, allerdings deutlich weniger, als dies in Deutschland der Fall war (vor der Rente mit 67). Da Frankreich nach wie vor eine günstigere Demographie als Deutschland hat und die jungen Französinnen im Schnitt immer noch zwei Kinder bekommen, ist das Alterungsproblem geringer als in Deutschland. Dennoch rechnet der Rentenrat, Frankreichs unabhängiges Beratergremium, im Jahr 2050 mit 7,5 bis 15 Milliarden Defizit in der Rentenkasse, es besteht also durchaus Handlungsbedarf.
Sind die Gewerkschaften stark genug, um den Kampf gegen Macron zu gewinnen?
Für die Gewerkschaften, die zum Streik aufgerufen haben (nicht alle sind dabei), geht es um alles oder nichts, um eine entscheidende Machtprobe. Insgesamt nimmt die gesellschaftliche Macht der Gewerkschaften nämlich seit vielen Jahren ab, die Franzosen sind nur noch in einer kleinen Minderheit gewerkschaftlich organisiert. Zudem besteht ein Konflikt im Gewerkschaftslager zwischen einer radikalen, auf maximale Opposition ausgelegten Linie und einer, die eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Gewerkschaften im Rahmen eines sozialen Dialogs vertritt. Dieses Lager, um die größte Einzelgewerkschaft CFDT, war bei den Betriebsratswahlen im Aufwind. Sie verhandelt am runden Tisch zur Rentenreform und will sich erst nach Prüfung des Gesetzesvorschlags entscheiden. Der Ansatz des radikaleren Lagers um die CGT, die insbesondere bei der Staatsbahn SNCF noch sehr stark ist, setzt auf ein gefährliches Alles-oder-Nichts-Spiel. Ihr Boss Martinez muss weitgehende Zugeständnisse oder kurz und knapp den Rückzug der Reform erlangen, wenn er sich mit seinem Vorgehen behaupten will.
Glauben Sie, dass es zu einem Kompromiss zwischen Gewerkschaften und Macron kommen wird?
SEIDENDORF: Von heute aus ganz schwer zu sagen. Das Gewerkschaftslager scheint sehr gut organisiert, geht aber ein hohes Risiko ein. Wenn es Macron gelingt, die reformwillige und in die Diskussionen eingebundene CFDT bei der Stange zu halten, kann er durchaus zu einem Erfolg kommen. Dazu müsste er insbesondere den Aspekt der Vereinfachung und Angleichung des Rentensystems in den Mittelpunkt stellen, und dabei möglichst verzichten auf eine Verschiebung des Renteneintrittalters oder eine Verlängerung der Beitragsjahre.
Wie beliebt ist Macron noch bei den Franzosen?
SEIDENDORF: Es besteht die Gefahr, dass sich die soziale Unzufriedenheit insgesamt hochschaukelt und mit den Gewerkschaftsprotesten verbindet. Es gibt in einer Vielzahl von Branchen Kritik an Einsparungen und an fehlenden Mitteln, insbesondere im Gesundheits- und Krankenhausbereich, im Bildungsbereich, in der frühkindlichen Bildung (die den Franzosen sehr wichtig ist), aber auch unter den Studenten oder den Bauern. Hier geht es nicht um die Rente, sondern insgesamt um das Gefühl mangelnder materieller und sozialer Teilhabe, und dann sind ja auch noch die Gelbwesten da, auch wenn sie im Moment weniger präsent sind.
Traut die Bevölkerung Macrons Reformen?
SEIDENDORF: Es gibt immer noch eine deutlich höhere Unterstützung für Macron, als für seine beiden Vorgänger Hollande und Sarkozy nach der Hälfte ihrer Amtszeit. Vor allem wird Macron zugute gehalten, dass er reformiert und seine Reformen auch umsetzt. Gleichzeitig sagen die etwa zwei Drittel der Franzosen, die den Streiktag am letzten Donnerstag für gerechtfertigt hielten, dass sie der Regierung bei den Reformen nicht über den Weg trauen und es prinzipiell nur schlechter werden könne – und hier begegnen wir einer massiven, nicht immer rationalen, aber dafür häufig sehr radikalen Ablehnung Macrons. Diese Opposition ist zu fast allem bereit und kann gerade deshalb für den Präsidenten gefährlich werden.
Haben Macrons Reformen haben bisher Erfolge gehabt?
SEIDENDORF: Macron war ja schon als Wirtschaftsminister unter Präsident Hollande an den wichtigsten strukturellen Reformen beteiligt, und viele führt er nun noch weiter fort. Er erntet aber auch die Früchte aus dieser Zeit. Die Arbeitslosigkeit geht zurück, das Wirtschaftswachstum ist stabil und höher als in Deutschland, die Anlageninvestitionen ziehen wieder an, die Stimmung gerade in innovativen Sektoren, im Startup- und Digitalbereich, ist durchweg positiv. Hier macht sich eine der Stärken des Zentralstaats bemerkbar, der eine einmal beschlossene Strukturpolitik entschlossen umsetzen kann und so z.B. die Infrastrukturbedingungen für junge Unternehmen massiv unterstützen kann.
In all diesen Bereichen hat Macron zum gegenwärtigen Stimmungsumschwung mit seinen Reformen beigetragen.
Was ist eigentlich aus dieser Gelbwesten-Bewegung geworden?
SEIDENDORF: Sie ist immer noch aktiv, obwohl sie im Moment eher weniger Aufmerksamkeit erfährt. Das ist das Schicksal eines wenig organisierten Facebook- oder Internetprotests, dessen Attraktivität stark von seiner medial geschaffenen Aufmerksamkeit abhängt. Nimmt diese ab, flaut auch das Interesse an der Bewegung ab und sie verläuft sich schnell. Die zugrundeliegenden Phänomene sozialer Unzufriedenheit und Ausgeschlossenheit und mangelnder Teilhabe sind aber nach wie vor präsent und es wird interessant sein zu sehen, ob und in wieweit es den eigentlich schon abgeschriebenen Gewerkschaften bei ihren Protesten gelingen wird, auch aus den Rängen der Gelbwesten Zulauf zu erhalten. mei
English version
Where is France heading? Trade union strikes against President Macron's pension reform paralyse the country. An interview with Stefan Seidendorf, Deputy Director of the German-French Institute.
Mr Seidendorf, the strikes against Macron's pension reform are paralysing France. Has the president spanned the arc?
STEFAN SEIDENDORF: Social reforms in general and pension reforms in particular are a sensitive issue everywhere, perhaps especially in France. There are no fewer than 42 different pension systems with different contribution periods and levels, different early retirement options, etc. Macron has set out to clear this thicket and introduce a single, uniform system. A majority of citizens also think this is a good idea. At the same time, however, a majority of the French find the strike justified, so there is a certain paradox which does not make things any easier for the government. If you imagine that in Germany the government is proposing to transfer civil servants' pensions into the general pension system at a stroke, and you would multiply the reaction by 42, you can imagine the unrest that Macron's idea of reform causes.
What were the reasons for putting pension reform on the agenda?
SEIDENDORF: The French pension system is very confusing and often very unfair. For example, a bus driver in Paris can retire much earlier and with a higher salary than one in Amiens, without it being clear why this is the case - one of President Macron's favourite examples - to justify the need for reform. Moreover, the French pension system has also come under pressure from the ageing of society, albeit much less than in Germany (before retirement at 67). As France still has a more favourable demography than Germany and young French women still have two children on average, the ageing problem is lower than in Germany. Nevertheless, the Pension Council, France's independent advisory body, expects a 7.5 to 15 billion deficit in the pension fund in 2050, so there is definitely a need for action.
Are the trade unions strong enough to win the battle against Macron?
For the unions that have called for a strike (not everyone is there), it's all or nothing, a decisive showdown. All in all, the social power of the trade unions has been declining for many years, and the French are now only organised in a small minority. In addition, there is a conflict in the trade union camp between a radical line designed to maximise opposition and one that represents the social responsibility of trade unions as a whole within the framework of a social dialogue. This camp, around the largest single union, the CFDT, was on the upswing in the works council elections. It is negotiating at a round table on pension reform and will only decide after examining the proposed law. The approach of the more radical camp around the CGT, which is still very strong in the SNCF state railway in particular, relies on a dangerous all-or-nothing game. Your boss, Martinez, will have to make far-reaching concessions or briefly withdraw from the reform if he wants to maintain his position.
Do you think there will be a compromise between trade unions and Macron?
SEIDENDORF: It's hard to say today. The union camp seems very well organised, but is taking a high risk. If Macron succeeds in keeping the CFDT, which is willing to reform and is involved in the discussions, he may well succeed. In particular, he should focus on the simplification and harmonisation of the pension system, without postponing the retirement age or extending contribution years.
How popular is Macron with the French?
SEIDENDORF: There is a danger that social dissatisfaction as a whole will be exaggerated and linked to the trade union protests. There is criticism in a large number of sectors of savings and lack of resources, particularly in the health and hospital sectors, in education, in early childhood education (which is very important to the French), but also among students and farmers. This is not about pensions, but about the overall feeling of a lack of material and social participation, and then there are the yellow vests, even if they are less present at the moment.
Does the population trust Macron's reforms?
SEIDENDORF: There is still much more support for Macron than for his two predecessors Hollande and Sarkozy after half their term. Above all, Macron is credited with reforming and implementing his reforms. At the same time, the two-thirds or so of the French, who considered last Thursday's strike day to be justified, say that they do not trust the government to carry out the reforms and that, in principle, things can only get worse - and here we find a massive, not always rational, but often very radical rejection of Macron. This opposition is prepared to do almost anything and can therefore become dangerous for the president.
Have Macron's reforms been successful so far?
SEIDENDORF: Macron was already involved in the most important structural reforms as Economics Minister under President Hollande, and he is now continuing many more. But he is also reaping the fruits of that time. Unemployment is falling, economic growth is stable and higher than in Germany, investment in plant and equipment is picking up again, and the mood in innovative sectors in particular, in the start-up and digital sectors, is consistently positive. This is one of the strengths of the central government, which can resolutely implement a structural policy once it has been adopted and thus, for example, massively support the infrastructure conditions for young companies.
In all these areas, Macron has contributed to the current mood swing with its reforms.
What has become of this yellow-white movement?
SEIDENDORF: It is still active, although it is receiving less attention at the moment. This is the fate of a little organised Facebook or Internet protest, the attractiveness of which depends heavily on the attention it receives from the media. If the attention decreases, the interest in the movement also diminishes and it quickly disappears. However, the underlying phenomena of social dissatisfaction and exclusion and lack of participation are still present and it will be interesting to see whether and to what extent the trade unions, which have actually already been written off, will succeed in gaining support from the ranks of the Yellow West in their protests. mei