Femizide: Die Eskalationsdynamik muss rechtzeitig durchbrochen werden

Herr Baier, in Deutschland und auch weltweit häufen sich die Gewalttaten gegenüber Frauen. Haben diese Verbrechen eine Zunahme erfahren?

 

DIRK BAIER: In Deutschland liegen Daten zur Entwicklung der Partnerschaftsgewalt nur auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik vor. Kriminalstatistiken sind aber immer mit Vorsicht zu geniessen, weil darin nur angezeigte Taten registriert werden. Im Bereich Häusliche Gewalt ist von einem grossen Dunkelfeld auszugehen, das heißt die Opfer zeigen in der Mehrheit die Taten nicht an – und ein Anstieg der Anzeigebereitschaft würde zu einem Anstieg der Zahlen führen. Seit 2015 gibt es vom Bundeskriminalamt veröffentlichte Statistiken zur Partnergewalt. Diese zeigen für gefährliche Körperverletzungen ebenso wie für leichte Körperverletzungen einen Anstieg der Opferzahlen um circa fünf Prozent. Es ist aber davon auszugehen, dass sich die Sensibilität in der Bevölkerung erhöht hat und dieser Anstieg damit zumindest teilweise auf eine höhere Anzeigebereitschaft zurückzuführen ist.

 

Wie sieht es mit dem schweren Verbrechen aus?

 

BAIER: Im Bereich Mord/Totschlag (inklusive Versuche) – einen nicht anzeigesensiblen Deliktbereich – wurden im Jahr 2015 415 Opfer registriert, 2018 421 Delikte. Ein Anstieg wird insofern nicht sichtbar. Insgesamt hat sich aber die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Themenfeld erhöht, weshalb der Eindruck entstehen kann, dass Häusliche Gewalt zunimmt. 

 

Wo liegen die Ursachen für solche Taten?

 

BAIER: In Partnerschaften und Familien entstehen immer wieder Konflikte. Diese können je nach Eigenschaften der involvierten Personen schnell eskalieren. Aus meiner Sicht lassen sich Gewaltvorfälle in Partnerschaften daher einerseits auf fehlende Selbstkontroll- und Konfliktlösefähigkeiten zurückführen. Andererseits spielt in der Regel Alkoholkonsum eine Rolle, das heißt Übergriffe werden dann wahrscheinlicher, wenn die Beteiligten Alkohol konsumiert haben. Zusätzlich gibt es aber auch noch ein kulturelles Element: Wenn insbesondere Männer der Ansicht sind, dass Frauen eine Art Eigentum darstellen, sie die Frauen deshalb stark kontrollieren, dann kann es beispielsweise, wenn Trennungen im Raum stehen, zu Übergriffen kommen. Die Trennung wird als Gesichtsverlust wahrgenommen; und um die eigene Ehre wie die Ehre der Familie wiederherzustellen, wird versucht, die Frau zu töten. 

 

Welcher Tätertypus verübt solche Verbrechen?

 

BAIER: Da Gewalt in Partnerschaften viele Ursachen hat – drei davon habe ich gerade ausgeführt – gibt es nicht den einen typischen Täter. Zu bedenken in diesem Zusammenhang ist – dass es je nach Delikt – auch bis circa 20 Prozent weibliche Täter gibt. Man kann nicht sagen, dass nur Migranten als Täter in Erscheinung treten, dass sich solche Vorfälle nur in niedrigen Sozialschichten abspielen. Häusliche Gewalt ist in allen Bevölkerungsgruppen zu finden und ein Problem. Wichtiger als der Tätertypus ist aus meiner Sicht der Prozesse der Tateskalation: Gewöhnlich kann man unterschiedliche Stadien der Häuslichen Gewalt ausmachen. Es beginnt beispielsweise mit Kontrollverhalten (Handy kontrollieren), geht über verbale Beleidigungen hin zu körperlichen Angriffen zu letztlich schwerer Gewalt. Wichtig ist, bereits frühzeitig diese Eskalationsdynamik zu unterbinden. 

 

Warum werden diese Verbrechen oft mit hohem Gewaltpotenzial durchgeführt?

 

BAIER: Am Ende einer Eskalationsdynamik kann eine schwere Gewalttat stehen, die dann auch tödlich enden kann. Gleichwohl ist zu bedenken: Im Jahr 2018 wurden beispielsweise 85.000 leichte Körperverletzungen im Bereich Partnergewalt ausgemacht, aber nur 421 Taten des (versuchten) Mords/Totschlag. Die typische häusliche Gewalt ist nicht die tödliche Gewalt. Wenn die Dynamik aber nicht gestoppt wird, das heißt nicht rechtzeitig Polizei oder Beratungsstellen beigezogen werden, dann kann Häusliche Gewalt zu den Ergebnissen führen, die aus der Medienberichterstattung bekannt sind.

 

Wie beurteilen sie die Psyche solcher Täter?

 

BAIER: Häusliche Gewalt ist weitestgehend kein Ergebnis einer psychischen Krankheit. Es kommt in bestimmten Situationen, Alkoholkonsum und Trennung verstärkt zu Partnergewalt, also unter anderem auch in emotionalen Ausnahmesituationen. Und dann kann prinzipiell jeder Täter werden. Es kann daher nicht gesagt werden, dass bestimmte Störungsbilder in besonderer Weise für häusliche Gewalt anfällig machen.

 

Woher rührt, trotz feministischer Bewegungen, diese Respektlosigkeit gegenüber Frauen in der heutigen Zeit?

 

BAIER: Wir beobachten unter Jugendlichen, dass Machoorientierungen wieder mehr Zustimmung erfahren. Das ist durchaus ein Trend, der Sorge bereitet. Junge Männer scheinen zunehmend Schwierigkeiten zu haben, eine Geschlechtsidentität zu entwickeln und orientieren sich an eigentlich überholten Männlichkeitsvorstellung von Macht und Dominanz. Wichtig in diesem Zusammenhang zu betonen ist aber, dass die deutliche Mehrheit der jungen Männer solchen Männlichkeitskonzepten nicht zustimmt. Es wäre daher falsch, zu sagen, dass es eine generelle Respektlosigkeit gegenüber Frauen gäbe. 

 

Wie können sich Frauen gegen diese Gewalttäter schützen?

 

BAIER: Wichtig für Frauen ist, frühzeitig zu reagieren. Die genannte Eskalationsdynamik sollte also schnell durchbrochen werden. Bereits als unangenehm empfundenes Kontrollieren durch den Partner sollte in der Beziehung angesprochen werden. Bei verbalen und körperlichen Angriffen sollten Beratungsstallen kontaktiert werden. Und keinesfalls sollte sich eine Frau davor scheuen, die Polizei einzuschalten – und zwar nicht erst, wenn schwere Gewaltübergriffe erfolgen. Auch die Polizei kann effektive Hilfe in Situationen häuslicher Gewalt geben oder vermitteln. mei

 

English version

 

The violence against women is increasing. Why do men attack women? What are the causes of this violence? A conversation with the criminologist Dirk Baier from the Zurich University of Applied Sciences.

 

Mr. Baier, violence against women is increasing in Germany and worldwide. Have these crimes experienced an increase?

 

DIRK BAIER: In Germany, data on the development of partner violence are only available on the basis of police crime statistics. However, crime statistics should always be taken with caution because they only record reported acts. In the area of domestic violence a large dark field can be assumed, i.e. the victims in the majority do not report the crimes - and an increase in the willingness to report would lead to an increase in the numbers. Statistics on partner violence published by the Federal Criminal Police Office have been available since 2015. These show an increase in the number of victims of both dangerous and minor bodily injuries of around five percent. However, it can be assumed that the sensitivity of the population has increased and that this increase is thus at least partly attributable to a higher readiness to report.

 

What about the serious crime?

 

BAIER: In the area of murder/killing (including attempts) - a non-disclosure-sensitive crime area - 415 victims were registered in 2015 and 421 in 2018. An increase is therefore not visible. Overall, however, social awareness of the issue has increased, which may give the impression that domestic violence is on the increase. 

 

What are the causes of such acts?

 

BAIER: Conflicts arise again and again in partnerships and families. These can quickly escalate depending on the characteristics of the people involved. In my view, incidents of violence in partnerships can therefore be attributed to a lack of self-control and conflict resolution skills. On the other hand, alcohol consumption usually plays a role, i.e. assaults become more probable when those involved have consumed alcohol. In addition, there is also a cultural element: if men in particular are of the opinion that women are a kind of property, which is why they strongly control women, then, for example, if separations are involved, assaults can occur. The separation is perceived as a loss of face; and in order to restore one's own honour as well as the honour of the family, attempts are made to kill the woman. 

 

What type of perpetrator commits such crimes?

 

BAIER: Since violence in partnerships has many causes - three of which I just mentioned - there is not one typical perpetrator. In this context, it should be borne in mind - depending on the offence - that up to about 20 percent of the perpetrators are women. One cannot say that only migrants appear as perpetrators, that such incidents only take place in low social strata. Domestic violence can be found in all population groups and is a problem. More important than the type of perpetrator, in my view, is the process of the escalation of the crime: Usually one can identify different stages of domestic violence. It begins, for example, with control behaviour (controlling the mobile phone), goes on to verbal insults, physical attacks and ultimately severe violence. It is important to prevent this escalation dynamic at an early stage. 

 

Why are these crimes often carried out with a high potential for violence?

 

BAIER: At the end of an escalation dynamic, there can be a serious act of violence, which can also be fatal. Nevertheless, one should bear in mind: In the year 2018, for example, 85,000 minor bodily injuries were recorded in the area of partner violence, but only 421 acts of (attempted) murder/killing. Typical domestic violence is not fatal violence. However, if the dynamic is not stopped, i.e. the police or counselling centres are not called in in time, then domestic violence can lead to the results known from media coverage.

 

How do they assess the psyche of such perpetrators?

 

BAIER: Domestic violence is largely not the result of mental illness. In certain situations, alcohol consumption and separation, there is increased partner violence, including in exceptional emotional situations. And then, in principle, anyone can become a perpetrator. It cannot therefore be said that certain disturbance patterns make people particularly susceptible to domestic violence.

 

Despite feminist movements, where does this disrespect for women in today's world come from?

 

BAIER: We observe among young people that macho orientations again experience more approval. This is definitely a trend that causes concern. Young men seem to have increasing difficulties in developing a gender identity and orient themselves towards an outdated idea of masculinity of power and dominance. However, it is important to emphasise in this context that the clear majority of young men do not agree with such concepts of masculinity. It would therefore be wrong to say that there is a general lack of respect for women. 

 

How can women protect themselves against these perpetrators of violence?

 

BAIER: It is important for women to react early. The escalation dynamic mentioned above should therefore be broken quickly. Control by the partner, which is already perceived as unpleasant, should be addressed in the relationship. In the case of verbal and physical attacks, consultation rooms should be contacted. And under no circumstances should a woman be afraid to call in the police - and not only when there are serious violent attacks. The police can also provide or mediate effective help in domestic violence situations. mei