Herr Kufferath, ausgerechnet zu ihrem 100-jährigen Jubiläum ist die AWO in Frankfurt in einen großen Skandal verwickelt. Es geht um Gier, Postenschacherei, teure Dienstwagen und weitere unliebsame Dinge. Hätten Sie mit solch einem Desaster in einem Regionalverband der AWO gerechnet? Ist die AWO zu einem Selbstbedienungsladen geworden?
PHILIPP KUFFERATH: Auch wenn Skandale und Misswirtschaft innerhalb vieler Verbände vorkommen, ist das Ausmaß der in den letzten Wochen enthüllten Verfehlungen in zwei regionalen AWO-Gliederungen erschreckend. Es sind spezifische lokale Konstellationen, die diese Entwicklung ermöglicht haben. Sie sind nicht repräsentativ für die Aktivitäten der AWO insgesamt.
Wie sollte die Organisation, die auch Staats- also Steuergelder erhält, mit diesem Desaster umgehen?
KUFFERATH: Der AWO Bundesverband hat eindeutig Stellung zu den Rechtsbrüchen bezogen und trägt aktiv zu den Ermittlungen bei. Das ist ein wichtiges Signal. Den AWO-Mitgliedern in den Ortsvereinen in Frankfurt und Wiesbaden sollte ebenfalls an einer restlosen Aufklärung gelegen sein. Der Gesamtverband hat in den letzten Jahren sehr weitgehende Richtlinien für eine verantwortungsvolle Verbands- und Unternehmensführung und -kontrolle entwickelt, die in allen Gliederungen auch durchgesetzt werden müssen. Ehrenamtliche Funktionen und berufliche Tätigkeit für die AWO sollten klar getrennt sein. Grundsätzlich sind die regionalen Gliederungen aber rechtlich eigenständige Akteure.
Warum hat sich eine traditionsreiche, soziale Organisation so entwickelt? Wo sehen Sie die Gründe? Muss die Organisation vom Kopf auf die Füße gestellt werden?
KUFFERATH: Die AWO hat in den letzten 30 Jahren ein imposantes Wachstum ihrer Aktivitäten erreicht. Dies ging mit enormen Arbeitsbelastungen für die größtenteils ehrenamtlichen Vorstände einher, die nun bundesweit etwa 18.000 Einrichtungen und soziale Dienste überblicken müssen. Die Ausgliederung von einzelnen Gesellschaften, die Entflechtung von Verbandsstrukturen und Sozialunternehmen und die Entwicklung von programmatischen Leitlinien und Compliance-Regeln waren Reaktionen auf diese Entwicklung, die vor Ort recht unterschiedlich angegangen worden. Angesichts sinkender Mitgliederzahlen werden die sozialen Aktivitäten mittlerweile überwiegend durch festangestellte Mitarbeiter geleistet.
Lassen Sie uns zu Ihrer historischen Expertise kommen. Welche Idee stand hinter der Gründung der AWO?
KUFFERATH: Die Gründung der AWO im Dezember 1919 war eine Reaktion der SPD auf die Notlagen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Schon im Kaiserreich hatten sich Sozialdemokratinnen für den Kinderschutz engagiert, in der Kriegsfürsorge sammelten sie weitere praktische Erfahrungen. Die Weimarer Republik brachte neue Möglichkeiten zur politischen Mitwirkung, das Feld der Wohlfahrtsarbeit sollte nun nicht mehr primär den konfessionellen Verbänden oder der privaten Wohltätigkeitsvereinen vorbehalten sein, sondern in einem Rechtsanspruch auf umfassende soziale Sicherheit münden, unabhängig von Herkunft oder Weltanschauung.
Wie eng war die AWO bei Ihrer Gründung mit der Sozialdemokratie verbunden?
KUFFERATH: Die AWO wurde von der SPD als "Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt" gegründet. Bis 1933 war sie eine Unterorganisation der Partei. Erst die Verfolgung durch die Nationalsozialisten führte dazu, dass die Parteibindung in den Satzungen gestrichen wurde. Nach 1945 wurde die AWO als eigenständige Organisation neu gegründet, das lag auch im Interesse der westlichen Alliierten. Die Nähe zur SPD besteht jedoch bis heute.
Ab wann setzte der Aufschwung der AWO als Sozialverband ein?
KUFFERATH: Bereits in den zwanziger Jahren kam den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege eine große Bedeutung zu, da der Staat finanziell und organisatorisch nicht in der Lage war, soziale Einrichtungen und Beratungsangebote in allen Bereichen dauerhaft bereitzustellen. Die sozialpolitischen Weichenstellungen in der Bundesrepublik ab 1949 griffen auf die starke Stellung der Wohlfahrtsverbände zurück. Staatliche Förderprogramme wie den Bundesjugendplan oder das Müttergenesungswerk sowie Lotterien wie "Aktion Sorgenkind" oder "Platz an der Sonne" brachten seit den fünfziger Jahren einen rasanten Ausbau von dringend benötigten sozialen Einrichtungen. Die AWO stand zwar noch lange im Schatten von Caritas und Diakonie, sie gewann durch diese und weitere Programme aber an gesellschaftlicher Bedeutung.
Wie hat die Organisation konkret den (armen) Menschen geholfen?
KUFFERATH: Notlagen und soziale Bedürfnis treten meist akut auf und wandeln sich ständig. Nach den beiden Weltkriegen waren Nähstuben, Suppenküchen, Unterkünfte und Kindergärten gefragt. Die Mitglieder und Helfer der AWO verteilte Spendenpakete aus dem Ausland, sie nähten gebrauchte Stoffe um oder betreuten Kinder und. In den fünfziger Jahren kamen dann Jugendwohnheime und Freizeiteinrichtungen hinzu, um Jugendliche aus zerrütteten Familienverhältnissen, Vertriebene und DDR-Flüchtlinge zu integrieren. In den sechziger Jahren folgten Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Beratungsstellen für Gastarbeiter, Mütterschulen sowie Essen auf Rädern.
Ab wann hat sich die AWO zu einer Großorganisation entwickelt?
KUFFERATH: Bereits um 1950 hatte die AWO 300.000 Mitglieder, sie leisteten jedoch überwiegend ehrenamtliche Hilfe. Ab 1965 stiegen die Mitgliederzahlen an, gleichzeitig kam es zu einer Expansion der Einrichtungen: Die Menschen lebten länger, die Frauen strebten ins Berufsleben, die soziale Arbeit professionalisierte sich. Insbesondere Senioreneinrichtungen und Kindertagesstätten wurden nun flächendeckend in großer Zahl benötigt. Diese gesellschaftlichen Tendenzen stärkten die AWO und die übrigen Verbände, die in diesen Bereichen tätig wurden.
Wie hat die AWO die Nazi-Diktatur überstanden und wo lagen ihre Schwerpunkte nach dem 2. Weltkrieg?
KUFFERATH: Die AWO wurde im Mai 1933 verboten und zerschlagen. Die Nationalsozialisten bereicherten sich an Einrichtungen und Inventar, viele Mitglieder wurden verfolgt, ähnlich wie Sozialdemokraten und Gewerkschafter, manche gingen ins Exil. Nach 1945 musste die AWO deshalb, im Gegensatz zu den übrigen Verbänden, ohne Ressourcen wieder von vorn beginnen. Die Organisation wurde von unten neu aufgebaut, sie richtete sich nach den spezifischen Gegebenheiten in den einzelnen Besatzungszonen und den lokalen Konstellationen.
Welche Entwicklung hat die AWO im "Wohlfahrtsstaat" (West)Deutschland genommen?
KUFFERATH: Sie reagierte auf rechtliche Vorgaben und situative Gegebenheiten und leistete, wie oben skizziert, damit einen zentralen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Neben dem Betrieb eigener Einrichtungen standen das ehrenamtliche Engagement in den Ortsvereinen, in Jugendgruppen und Altenklubs sowie die Mitwirkung an der Gesetzgebung und die Kooperation mit anderen sozialpolitischen Akteuren im Vordergrund
Wie haben sich die Schwerpunkte der Verbandsarbeit im Zeitalter der "Sozialbürokratie" verändert?
KUFFERATH: Der Ausbau von Kindertageseinrichtungen und Pflegeheimen konnte nur durch fachliches Personal geleistet werden. Ausbildung und Weiterbildung werden immer bedeutsamer, die Zahl der Beschäftigten und die Bilanzsummen der einzelnen Gesellschaften steigen kontinuierlich. Daraus ergab sich eine größere Verantwortung für die Geschäftsführung. Die Kreisgeschäftsstellen wurden ausgebaut, die wirtschaftliche Expertise der Verwaltungen gestärkt. Die Kontrolle des großen Netzwerks von Einrichtungen und Diensten ist durch ehrenamtliche Vorstände oder verbandsnahe Revisoren nicht mehr zu bewältigen, sondern wird durch eine Entflechtung von Verbands- und Unternehmensaufgaben sowie Compliance- und Governance-Regeln gesteuert. Die Rückbindung der sozialwirtschaftlichen Aufgaben an die Grundwerte und Leitlinien des Verbands ist mit zahlreichen Spannungen verbunden, beispielsweise bei den Arbeitsbedingungen in der Pflege.
Wo liegen heute die Schwerpunkte der AWO-Arbeit?
KUFFERATH: Durch den Rechtanspruch auf Kindergartenplätze und die Einführung der Pflegeversicherung bleiben die Einrichtungen für Kinder und Senioren das größte Tätigkeitsfeld. Der Einsatz für Geflüchtete und gegen Rassismus ist darüber hinaus eine zentrale Aufgabe der AWO. Dazu kommt eine Vielzahl weiterer Aufgaben: Quartiermanagement, Begegnungsstätten, Bürgerschaftliches Engagement, Fanprojekte, Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und vieles mehr.
Was wünschen Sie der AWO für die Zukunft?
KUFFERATH: Die AWO hat in 100 Jahren ständigen Wandels bewiesen, dass sie eine wichtige Stütze des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist. Die Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Solidarität wurden durch das neue Grundsatzprogramm gestärkt, sie müssen verbindliche Leitlinien für alle Aktivitäten des Verbands bleiben. Spannungen, Widersprüche und Kritik sollten in einem transparenten Prozess aufgearbeitet werden. mei
Buchhinweis: Philipp Kufferrath, Jürgen Mittag: Geschichte der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Dietz-Verlag 2019, 464 Seiten,
26 Euro
Personalien: Philipp Kufferath, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Sporthochschule Köln und Referent der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Archiv für Sozialgeschichte. Jürgen Mittag, Dr. phil., Jean Monnet-Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln und Leiter des Instituts für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung. Er ist Vorstandsmitglied der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets.
English version
In the year of its 100th anniversary of all things, Arbeiterwohlfahrt (AWO) is involved in its biggest scandal.
Mr. Kufferath, in the year of its 100th anniversary of all things, the AWO in Frankfurt is involved in its biggest scandal. It is about greed, guard chess, expensive company cars and other unpleasant things. Would you have expected such a disaster in a regional association of the AWO? Has the AWO become a self-service store?
PHILIPP KUFFERATH: Even if scandals and mismanagement occur within many associations, the extent of the misconduct in two regional AWO divisions revealed in recent weeks is appalling. It is specific local constellations that have made this development possible. They are not representative of the activities of the AWO as a whole.
How should the organisation, which also receives state - i.e. tax - money, deal with this disaster?
KUFFERATH: The AWO Bundesverband has taken a clear position on the breaches of law and is actively contributing to the investigations. That is an important signal. The AWO members in the local associations in Frankfurt and Wiesbaden should also be interested in a complete clarification. In recent years, the general association has developed very far-reaching guidelines for responsible association and corporate management and control, which must also be enforced in all its structures. Voluntary functions and professional activities for the AWO should be clearly separated. In principle, however, the regional divisions are legally independent players.
Why has a traditional, social organisation developed in this way? Where do you see the reasons? Does the organisation have to be turned upside down?
KUFFERATH: The AWO has achieved impressive growth in its activities over the last 30 years. This has been accompanied by enormous workloads for the largely voluntary board members, who now have to oversee some 18,000 facilities and social services nationwide. The spin-off of individual companies, the disentanglement of association structures and social enterprises and the development of programmatic guidelines and compliance rules were reactions to this development, which were approached quite differently locally. In view of declining membership figures, social activities are now mainly carried out by permanent employees.
Let us turn to your historical expertise. What was the idea behind the founding of the AWO?
KUFFERATH: The founding of the AWO in December 1919 was a reaction of the SPD to the plight of Germany after the First World War. Social Democrats had already been committed to child protection in the German Empire, and they gained further practical experience in war welfare. The Weimar Republic brought new opportunities for political participation; the field of welfare work was now no longer to be primarily reserved for denominational associations or private charities, but was to result in a legal entitlement to comprehensive social security, regardless of origin or ideology.
How closely was the AWO associated with social democracy when it was founded?
KUFFERATH: The AWO was founded by the SPD as the "Main Committee for Workers' Welfare". Until 1933 it was a sub-organization of the party. It was not until the persecution by the National Socialists that the party affiliation was removed from the statutes. After 1945, the AWO was re-established as an independent organization, which was also in the interest of the Western Allies. However, its proximity to the SPD still exists today.
When did the AWO's upswing as a social organization begin?
KUFFERATH: As early as the 1920s, the central associations of the Freie Wohlfahrtspflege were already of great importance, since the state was financially and organizationally unable to provide social facilities and advisory services in all areas on a permanent basis. The socio-political course set in the Federal Republic from 1949 onwards was based on the strong position of the welfare associations. Since the 1950s, state support programmes such as the Federal Youth Plan or the Mothers' Convalescence Service, as well as lotteries such as "Aktion Sorgenkind" or "Platz an der Sonne" have brought about a rapid expansion of urgently needed social facilities. Although the AWO remained in the shadow of Caritas and Diakonie for a long time, it gained social importance through these and other programmes.
How has the organisation helped the (poor) people in concrete terms?
KUFFERATH: Emergencies and social needs are usually acute and constantly changing. After the two world wars, sewing rooms, soup kitchens, shelters and kindergartens were in demand. The members and helpers of the AWO distributed donation packages from abroad, they sewed used fabrics or looked after children and. In the 1950s, youth hostels and recreational facilities were added to integrate young people from broken families, displaced persons and GDR refugees. In the sixties, facilities for disabled people, advice centres for guest workers, schools for mothers and meals on wheels followed.
When did the AWO develop into a large organisation?
KUFFERATH: As early as 1950, the AWO had 300,000 members, but most of them provided help on a voluntary basis. From 1965 the number of members increased, and at the same time the facilities expanded: People lived longer, women aspired to work, social work became more professional. Especially facilities for the elderly and day care centres for children were now needed in large numbers throughout the country. These social trends strengthened the AWO and the other associations that became active in these areas.
How did the AWO survive the Nazi dictatorship and what were its priorities after the Second World War?
KUFFERATH: The AWO was banned and crushed in May 1933. The National Socialists enriched themselves in facilities and inventory, many members were persecuted, similar to Social Democrats and trade unionists, some went into exile. After 1945 the AWO therefore had to start all over again without resources, unlike the other associations. The organisation was rebuilt from the bottom up, it was geared to the specific conditions in the individual occupation zones and local constellations.
How has the AWO developed in the "welfare state" (West) Germany?
KUFFERATH: It reacted to legal requirements and situational conditions and, as outlined above, made a central contribution to social cohesion. In addition to running its own facilities, the AWO's main focus was on voluntary work in local associations, youth groups and clubs for the elderly, as well as participation in legislation and cooperation with other socio-political actors
How have the focal points of association work changed in the age of "social bureaucracy"?
KUFFERATH: The expansion of day-care facilities and nursing homes could only be achieved by skilled personnel. Training and further education are becoming increasingly important, the number of employees and the balance sheet totals of the individual companies are rising continuously. This has resulted in greater responsibility for the management. The district offices were expanded, and the economic expertise of the administrations was strengthened. The control of the large network of facilities and services can no longer be managed by honorary board members or auditors close to the association, but is now managed by separating association and corporate tasks and compliance and governance rules. The linking of socio-economic tasks to the basic values and guidelines of the association is associated with numerous tensions, for example in the working conditions in nursing care.
Where are the main focuses of AWO's work today?
KUFFERATH: Due to the legal entitlement to kindergarten places and the introduction of nursing care insurance, facilities for children and senior citizens remain the largest field of activity. Working for refugees and against racism is also a central task of the AWO. In addition, there are a multitude of other tasks: neighbourhood management, meeting places, civic involvement, fan projects, development cooperation, humanitarian aid and much more.
What do you wish the AWO for the future?
KUFFERATH: In 100 years of constant change, the AWO has proven that it is an important pillar of social cohesion. The basic values of freedom, equality, justice, tolerance and solidarity have been strengthened by the new policy statement; they must remain binding guidelines for all the association's activities. Tensions, contradictions and criticism should be dealt with in a transparent process.
Book reference: Philipp Kufferrath, Jürgen Mittag: Geschichte der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Dietz-Verlag 2019, 464 pages,
26 euros
Personal details: Philipp Kufferath, Dr. phil., research assistant at the German Sport University Cologne and consultant of the Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. He is managing editor of the journal Archiv für Sozialgeschichte. Jürgen Mittag, Dr. phil., Jean Monnet Professor at the German Sport University Cologne and Director of the Institute for European Sport Development and Leisure Research. He is a member of the board of the Ruhr Area History Foundation.