Herr von Arnim, was ist im Berliner Abgeordnetenhaus passiert?
HANS HERBERT VON ARNIM: Das Abgeordnetenhaus von Berlin ist nicht nur größer als nötig (160 statt 130 Mandate). Es hat zum 1. Januar 2020 auch noch die Entschädigung seiner Abgeordneten von 3944 Euro auf 6250 Euro monatlich erhöht, also um 58 Prozent. Damit hat sich das Stadtstaatenparlament in der laufenden Wahlperiode einen in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik einmaligen Zuschlag bewilligt.
Warum ist für Sie die Diätenerhöhung der Parlamentarier so fatal?
VON ARNIM: Die Abgeordneten der fünf Fraktionen (SPD, CDU, Grüne, Linke und FDP) wussten, zu welchen Bedingungen sie ins Parlament gewählt worden waren. Sich ihre Bezüge selbst gewaltig anzuheben, kommt einem so vor, als würden Handwerker mitten in der Arbeit mehr als die Hälfte auf ihren Voranschlag draufschlagen. Die Erhöhung der Versorgung erfolgt sogar mit Rückwirkung, sodass „langgediente“ Abgeordnete den Wert ihrer Anwartschaften auf Übergangsgeld und Rente mit einem Schlag um viele 100.000 Euro erhöht haben, eine wahre Selbstbedienungsorgie.
Mit welchen „Mitteln“ wurde die Diätenerhöhung durchgesetzt?
VON ARNIM: Die Betreiber der als „Parlamentsreform“ etikettierten Gesetzesänderung argumentierten mit unzutreffenden Vergleichen, wenn sie überhaupt eine Begründung unternahmen. Zugleich haben sie alle gerade bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache so wichtigen Kontrollen ausgehebelt:
- die Kontrolle durch die Wähler, die innerhalb der Wahlperiode ihre Stimme nicht erheben und der Selbstbedienung an der Wahlurne Einhalt gebieten können;
- die Kontrolle durch die Öffentlichkeit, da die Betreiber im Gesetzentwurf die von Geschäftsordnung und Verfassung vorgeschriebene Erklärung und Begründung wegließen und so den Medien und Bürgern die Erfassung des Inhalts der Neuregelung erschwerten;
- die Kontrolle durch objektiven Sachverstand: es gab weder eine Enquetekommission noch ein Sachverständigen-Hearing, obwohl diese bei derart umstürzenden Änderungen eigentlich angezeigt wären, und
- die Kontrolle durch den Präsidenten des Abgeordnetenhauses Ralf Wieland. Er hätte den fehlerhaften Gesetzentwurf beanstanden müssen.
Wie stellt sich nach dieser Parlamentsreform der „Gewinn“ für die Abgeordneten dar?
VON ARNIM: Vielleicht hängt die mangelnde Kontrolle durch den Präsidenten auch damit zusammen, dass dieser von der krassen Selbstbedienung ganz besonders profitiert. Wieland, der ja eine doppelte Entschädigung erhält, kann für sich persönlich – die erhöhten Ansprüche aus Versorgungen eingerechnet – einen Vermögensgewinn von über 600.000 Euro verbuchen. Alle 160 Abgeordneten zusammen macht das neue Gesetz um 51 Millionen Euro reicher, sodass auf jeden Volksvertreter und jede Volksvertreterin im Durchschnitt eine Vermögensmehrung von 320.000 Euro entfällt, und das ohne jede wirkliche Rechtfertigung, fürwahr ein gewaltiger Griff in die öffentliche Kasse!
Welchen Eindruck hinterlässt solch ein Verhalten der Parlamentarier bei den Bürgern?
VON ARNIM: Den Bürgern muss die Neuregelung wie „ein Stück aus dem Politikverdrossenheit fördernden Tollhaus“ vorkommen. So hatte die CDU eine gewaltige Erhöhung der Gelder für die Berliner Parlamentsfraktionen im Jahre 2017 genannt. Diese Bezeichnung trifft auf den jetzigen Diäten- und Versorgungscoup erst recht zu.
Kann gegen diese Parlamentsreform juristisch vorgegangen werden?
VON ARNIM: Ein Bürger und Steuerzahler kann leider nicht klagen. Die drei Abgeordneten der Grünen und die Mitglieder der AfD-Fraktion, die gegen das Gesetz gestimmt hatten, haben die Frist für eine mögliche sogenannte Organklage verstreichen lassen. Zwei vor vielen Jahren ausgeschiedene Abgeordnete, die an der Rückwirkung der Versorgungserhöhung teilhaben wollen, die die derzeitigen Abgeordneten nur für sich beschlossen haben, haben zwar beim Verfassungsgericht von Berlin geklagt, meines Erachtens aber ohne Chance. Denn es gibt kein Recht auf Gleichheit im Unrecht. Immerhin müsste das Gericht dann die Rechtswidrigkeit der Rückwirkung feststellen. Vielleicht können auch die Medien nach Abflauen der alles beherrschenden Corona-Krise Druck machen. Das Ausmaß der rückwirkenden Versorgungs-regelung wird ohnehin erst offenbar, wenn nach Ende der Wahlperiode im Herbst 2021 viele Abgeordnete ausscheiden. Zudem eröffnet die Berliner Verfassung mit Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid ein alternatives Gesetzgebungsverfahren, mit dem die Bevölkerung Gesetze am Parlament vorbei ändern oder aufheben kann.
Ist Berlin ein Einzelfall?
VON ARNIM: Zwar haben sich auch andere deutsche Landesparlamente mit zweifelhaften Argumenten höhere Diäten bewilligt und sich im Laufe der Jahre gegenseitig hochgeschaukelt. Eine 58-prozentige Aufstockung der Entschädigung mit rückwirkender Erhöhung der Versorgung in der laufenden Wahlperiode hat es bisher aber noch nicht gegeben. mei
Buchhinweis: Hans Herbert von Arnim, Der Griff in die Kasse, Heyne Verlag, München 2020, 112 Seiten, 8 Euro
English version
A interview with the constitutional lawyer and party critic, Hans Herbert von Arnim, about a "grab for the public purse" by the parliamentarians in the Berlin House of Representatives and the consequences.
Mr von Arnim, what happened in the Berlin House of Representatives?
HANS HERBERT VON ARNIM: The Berlin House of Representatives is not only larger than necessary (160 instead of 130 seats). On 1 January 2020, it also increased the monthly allowance for its members of parliament from 3944 euros to 6250 euros, i.e. by 58 percent. The city-state parliament has thus granted itself an allowance in the current legislative period that is unique in the history of the Federal Republic of Germany's parliament.
Why is the dietary increase of the parliamentarians so fatal for you?
VON ARNIM: The delegates of the five parliamentary groups (SPD, CDU, Greens, Left and FDP) knew under which conditions they had been elected to the parliament. To raise their salaries themselves enormously, one feels as if craftsmen in the middle of their work would slap more than half on their estimate. The increase in benefits is even retroactive, so that "long-serving" MPs have increased the value of their entitlements to transitional allowance and pension by many 100,000 euros at a stroke, a true self-service orgy.
What "means" were used to push through the dietary increase?
VON ARNIM: The operators of the law change labelled as "parliamentary reform" argued with incorrect comparisons, if they undertook at all a reasoning. At the same time, they undermined all the controls that were so important, especially in parliamentary decisions on their own behalf:
- the control by the voters, who cannot raise their voices during the legislative period and stop self-service at the ballot box;
- control by the public, as the operators omitted the explanation and justification required by the Rules of Procedure and the Constitution in the draft law, thus making it more difficult for the media and citizens to grasp the content of the new regulation;
- control by objective expertise: there was neither a commission of enquiry nor an expert hearing, although these would have been appropriate in the case of such overturning changes, and
- the control by the president of the Chamber of Deputies Ralf Wieland. He should have objected to the faulty bill.
How does the "profit" for the members of parliament look like after this parliamentary reform?
VON ARNIM: Perhaps the lack of control by the President is also connected with the fact that he profits particularly from the blatant self-service. Wieland, who receives double compensation, can personally - including the increased claims from pensions - book a capital gain of over 600,000 euros. All 160 members of parliament together make the new law 51 million euros richer, so that each representative of the people is on average entitled to an increase in assets of 320,000 euros, and this without any real justification, for truly a huge grip on the public purse!
What impression does such behaviour by parliamentarians leave on the citizens?
VON ARNIM: The citizens must feel the new regulation like "a piece of madhouse promoting disenchantment with politics". Thus the CDU had called a tremendous increase of the funds for the Berlin parliamentary factions in 2017. This description applies all the more to the current diet and supply coup.
Can legal action be taken against this parliamentary reform?
VON ARNIM: Unfortunately, a citizen and taxpayer cannot complain. The three members of the Greens and the members of the AfD group who voted against the law have let the deadline for a possible so-called organ complaint pass. Two MEPs who left many years ago and who want to participate in the retroactive effect of the increase in pensions, which the current MEPs have decided only for themselves, have indeed filed a complaint with the Berlin Constitutional Court, but in my view without a chance. Because there is no right to equality in injustice. After all, the court would then have to establish the illegality of the retroactive effect. Perhaps the media can also exert pressure once the all-dominant Corona crisis has subsided. In any case, the extent of the retroactive pension scheme will only become apparent when, after the end of the parliamentary term in autumn 2021, many members of parliament leave the parliament. In addition, the Berlin constitution opens up an alternative legislative procedure with a petition for a referendum, a petition for a referendum and a plebiscite, allowing the population to change or repeal laws bypassing parliament.
Is Berlin an isolated case?
VON ARNIM: It's true that other German state parliaments have also approved higher diets with dubious arguments and have rocked each other up over the years. However, a 58 percent increase in compensation with a retroactive increase in benefits in the current legislative period has not yet taken place. mei