"Die Documenta hat offensichtlich ein Glaubwürdigkeitsproblem. Dieses Problem wäre noch viel größer, wenn wir uns nicht mit den Fragen der Vergangenheit beschäftigen würden", sagte Bude im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" und ergänzte: "Die Ursprünge der Bundesrepublik als Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus sind außerordentlich kontaminiert."
Die 1955 erstmals ausgerichtete Kasseler Weltkunstschau mache da keine Ausnahme. Zugleich empfiehlt Bude gerade Wirtschaftsleuten den Besuch der Documenta. "Wenn Deutschland in der Weltökonomie weiter seine Rolle spielen will, dann muss man sich auch darum kümmern, wie die Länder, die neu in die Weltgesellschaft eintreten, sich präsentieren und welche Themen dabei eine Rolle spielen. Wenn Wirtschaftsleute einigermaßen klug über die Documenta gehen und die Dinge auf sich wirken lassen, dann lernen sie etwas über die Vielgestaltigkeit und Vernetztheit der heutigen Welt", sagte der Soziologe.
Die Kunst kann Konfliktlagen ausgleichen
Die Kunst könne einen Beitrag dazu leisten, Konfliktlagen auszugleichen und neu zu integrieren. Bude sieht "ein Motiv der Heilung in der Gegenwartskunst am Werke": "Denken Sie an Ruangrupa, das neue Team, das die nächste Documenta kuratieren wird. Die sind auf der Suche nach den selbstorganisatorischen, ja selbstheilenden Kräften der Gesellschaft." Diese Wirkung wird laut Bude gerade dadurch möglich, dass jene Kunst, die die Documenta zeigt, nicht den Interessen des Kunstmarktes folgt. "Gerade die Kunst der Documenta zeigt ja, dass es auch Künstlerinnen und Künstler mit Wirkung gibt, die ökonomisch gar nicht so erfolgreich sind. Es ist nicht so, als ob die Teilnahme an der Documenta ein Ticket dafür sei, um auf den globalen Kunstmärkten reüssieren zu können."
Wichtige Akteure der Kunstwelt unter die Lupe nehmen
Gleichzeitig tritt Bude dafür ein, die Rolle wichtiger Akteure der Kunstwelt kritisch unter die Lupe zu nehmen. Zu den Akteuren, deren Wirken er kritisch sieht, gehören die in der Kunstwelt bisweilen übermächtig wirkenden Kuratoren. "Ein heikler Punkt ist meiner Meinung nach, dass Kuratoren heute als Metakünstler jene Kunst hervorbringen, auf die sie sich beziehen. Man könnte von einem Zirkelschluss der Selbstautorisierung sprechen. Auch da haben wir eine Star-Klasse von Kuratoren, die wie Stars des Fußballs mit hohen Ablösesummen gehandelt werden. Man kennt sich, man trifft sich, man bedient sich", sagte der Gründungsdirektor des Documenta-Instituts. Künftige Forschung sollte sich seiner Meinung nach mit den "blinden Flecken und trügerischer Selbstverständlichkeit einer globalen Zirkulation von Konzepten, Referenzen und Allianzen" befassen. Heinz Bude ist Professor für Soziologie an der Universität Kassel. Er forscht über Fragen der Generationen und der Inklusion. Zuletzt publizierte er das Buch "Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee". pm, ots
English version
The sociologist Heinz Bude, newly appointed founding director of the Documenta Institute, advocates research into the National Socialist past of some of the founding figures of Documenta. "Documenta obviously has a credibility problem. This problem would be even greater if we did not deal with the questions of the past", said Bude in an interview with the "Neue Osnabrücker Zeitung" and added: "The origins of the Federal Republic as a society after National Socialism are extraordinarily contaminated".
The Kasseler Weltkunstschau, first held in 1955, was no exception. At the same time, Bude recommended a visit to the Documenta to business people in particular. "If Germany wants to continue to play its role in the world economy, then we must also take care of how the countries that are new to the world society present themselves and which topics play a role in this. If businessmen and women are reasonably wise in their approach to Documenta and let things take their toll, then they will learn something about the diversity and interconnectedness of today's world," said the sociologist.
Art can compensate for conflict situations
Art could make a contribution to balancing out and re-integrating conflict situations. Bude sees "a motif of healing at work in contemporary art": "Think of Ruangrupa, the new team that will curate the next Documenta. They are in search of society's self-organizing, even self-healing powers." According to Bude, this effect is made possible precisely because the art shown at Documenta does not follow the interests of the art market. "The art shown at Documenta in particular shows that there are also artists with an effect who are not so successful economically. It's not as if participation in Documenta is a ticket to success on the global art markets.
Taking a close look at key players in the art world
At the same time, Bude advocates a critical examination of the role of important actors in the art world. Among the actors whose work he views critically are the curators, who at times appear to be overpowering in the art world. "A delicate point, in my opinion, is that curators today, as meta-artists, produce the art to which they refer. One could speak of a circularity of self-authorization. Here, too, we have a star class of curators who are traded like football stars with high transfer fees. You know each other, you meet, you help yourself", said the founding director of the Documenta Institute. In his opinion, future research should deal with the "blind spots and deceptive implicitness of a global circulation of concepts, references and alliances". Heinz Bude is professor of sociology at the University of Kassel. He conducts research on questions of generations and inclusion. He most recently published the book "Solidarity. The future of a great idea". pm, ots, mei