Jede Kristallkugel ist zuverlässiger: Warum Meinungsforscher und Politikexperten bei den US-Wahlen wieder einmal falsch lagen

Jede Kristallkugel ist zuverlässiger als diese Branche. Einmal kann eine katastrophale Fehleinschätzung wie die von 2016 verziehen werden, als ein Sieg von Hillary Clinton sicher zu sein schien. Sobald es aber ein zweites Mal passiert, ist Vertrauen dauerhaft verspielt.

 

Selbst wenn Joe Biden die Präsidentschaft doch noch erringen sollte: Von einer tiefgreifenden Trendwende, einem Erdrutschsieg gar, kann keine Rede sein. In den nächsten Tagen und Wochen gilt es, die Ursachen für das Ergebnis zu analysieren. Allerdings bitte nicht allzu eilfertig. Wenn sich ein so großer Teil der politischen Fachwelt verschätzt - es waren ja nicht nur die Demoskopen! -, dann ist es keine dumme Idee, erst einmal tief Luft zu holen. 

 

Wissen wenig über die Stimmungen in der Bevölkerung

 

Beispiel: Corona. In den USA und andernorts wurde vor allem darüber gestritten, wie sehr ­Donald Trump sein Umgang mit der Seuche geschadet hat, ob nämlich mehr oder weniger. Aber vielleicht hat er ihm gar nicht geschadet, sondern genutzt. Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Wir wissen offenbar insgesamt sehr viel weniger über Stimmungen und grundsätzliche Einstellungen eines großen Teils der Bevölkerung, als wir glauben. Das ist bedrückend. Anderes Beispiel: Mobilisierung. Es schien eine gesicherte Erkenntnis zu sein, dass die Chancen von Joe Biden umso besser stehen, je mehr Leute zur Wahl gehen. Aber vielleicht war auch das ein Irrtum. 

 

Säulen des demokratischen Systems nachhaltig erschüttert

 

Wie auch immer, dem US-Präsidenten ist es in den letzten vier Jahren gelungen, den Glauben an Säulen des demokratischen Systems nachhaltig zu erschüttern. Kritischen Medien kommt in seinem Weltbild keine Kontrollfunktion zu, sie wurden zu "Feinden" erklärt. Der Wissenschaft unterstellt er, sich in den Dienst politischer Interessen zu stellen. Und nun sind die Gerichte dran, jedenfalls die, deren Richterinnen und Richter nicht von ihm handverlesen wurden. 

 

Demokratie steht nicht hoch im Kurs

 

Das Problem ist nicht in erster Linie, dass jemand derlei versucht. Das Problem ist, dass ein beträchtlicher Teil der Öffentlichkeit dazu stehend applaudiert. 

Die Amis sind halt blöd? Von wegen. Auch in Teilen Europas steht Demokratie derzeit nicht hoch im Kurs, ein Blick nach Ungarn oder Polen ist aufschlussreich. Und der Verlauf der US-Präsidentschaftswahlen kann nur Wasser auf die Mühlen von Rechtspopulisten sein. Trübe Aussichten. Unabhängig davon, wie der nächste Präsident der Vereinigten Staaten heißen wird.

pm, ots, Quelle: taz - Die Tageszeitung, Autorin: Bettina Gaus

 

English version

 

Whatever the outcome of the US presidential election, one thing is already clear: anyone employed in opinion research should consider a change of profession. Any crystal ball is more reliable than this industry. For once, a catastrophic miscalculation like the one in 2016 can be forgiven, when a victory by Hillary Clinton seemed certain. But as soon as it happens a second time, trust is permanently lost.

 

Even if Joe Biden should win the presidency after all: There can be no talk of a profound change of trend, not to mention a landslide victory. Over the next few days and weeks we will have to analyse the reasons for the outcome. But please do not be too hasty. If such a large part of the political experts misjudge - it was not only the opinion pollsters! -, then it is not a stupid idea to take a deep breath first. 

 

Little is known about the mood of the population

 

Example: Corona. In the USA and elsewhere, the main bone of contention has been the extent to which Donald Trump's handling of the disease has hurt him, whether more or less. But perhaps he did not harm him at all, but rather used it. The truth is: we do not know. Overall, we seem to know much less about the moods and fundamental attitudes of a large part of the population than we think we do. That is depressing. Another example: mobilisation. It seemed to be a sure thing that the more people go to the polls, the better Joe Biden's chances are. But perhaps that was also a mistake. 

 

Pillars of the democratic system lastingly shaken

 

However, in the last four years, the US President has succeeded in shaking the faith in pillars of the democratic system in a lasting way. Critical media do not have a controlling function in his world view; they have been declared "enemies". He accuses science of serving political interests. And now it is the turn of the courts, at least those whose judges have not been handpicked by him. 

 

Democracy is not high on the agenda

 

The problem is not primarily that someone is trying to do this. The problem is that a considerable part of the public is standing up and applauding. 

So the Americans are stupid? No, they are not stupid. Even in parts of Europe, democracy is not very popular at the moment, and a look at Hungary or Poland is revealing. And the course of the US presidential elections can only be water on the mills of right-wing populists. Bleak prospects. Regardless of what the next president of the United States will be called.

pm, ots, mei Source: taz - The Daily Newspaper, Author: Bettina Gaus