Deutsche in Afghanistan überfordert - Kein Nation-building durch USA

Der Historiker Heinrich August Winkler blickt mit großer Sorge auf die Entwicklung in Afghanistan.

 

Winkler sagte der "Heilbronner Stimme": "Wir müssen mit einem schrecklichen Ende rechnen, das ältere Beobachter an das Jahr 1975 zurückdenken lassen wird. Ich kann mich lebhaft erinnern an die Bilder von den Hubschrauber-Flügen der Amerikaner, mit denen sie dann noch einige ihrer südvietnamesischen Verbündeten aus dem belagerten Saigon zu retten versuchten. Man muss kein Pessimist sein, um zu befürchten, dass sich solche Szenen im Kabul von 2021 wiederholen könnten." Die Rückkehr der Taliban an die Macht sei jetzt wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit.

 

Eine Bedrohung, mit der die Welt leben muss

 

Winkler fügte hinzu: "Der islamistische Terrorismus ist seit 9/11 eine Bedrohung, mit der die Welt leben muss. Der transatlantische Westen wird zudem herausgefordert durch den Aufstieg der Volksrepublik China zur Weltmacht und die autoritäre Stabilisierung Russlands unter Putin. Weitere Machtzentren sind hinzugekommen. Die Macht des Westens hat, verglichen mit der Zeit um die Jahrtausendwende, erheblich abgenommen."

 

USA haben Nation-building nie ernsthaft versucht

 

Der Historiker urteilt: "In Afghanistan haben die USA Nation-building nie ernsthaft versucht. Das haben sie den Europäern und vor allem den Deutschen überlassen, die damit überfordert waren und sich sicherlich auch manche Illusion mit Blick auf die Umformbarkeit einer zutiefst traditionell geprägten Gesellschaft gemacht haben. Beim Irakkrieg haben sich die USA unter George W. Bush, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und den anderen neokonservativen Akteuren dem Wunschdenken hingegeben, sie könnten die Demokratie mit militärischen Mitteln, gewissermaßen im Tornister der GIs, dort einführen."

 

Wichtiger deutscher Zeithistoriker

 

Heinrich August Winkler (82) gilt als einer der wichtigsten deutschen Zeithistoriker. Im Bundestag hielt er die Hauptrede zum 70. Jahrestag des Kriegsendes. Die Leipziger Buchmesse ehrte Winkler 2016 mit dem Preis zur Europäischen Verständigung. Die Auszeichnung galt seinem vierbändigen Opus magnum "Geschichte des Westens", das er 2015 mit dem Band "Die Zeit der Gegenwart" abschloss. Längst ein Standardwerk ist Winklers Studie "Der lange Weg nach Westen" (2000). Ende August erscheint im Beck-Verlag: "Deutungskämpfe. Der Streit um die deutsche Geschichte." Winkler lehrte von 1972 bis 1991 als Professor in Freiburg, danach an der Humboldt-Universität in Berlin.

pm, ots

 

English version

 

Historian Heinrich August Winkler looks with great concern at the developments in Afghanistan.

 

Winkler told the "Heilbronner Stimme": "We have to expect a terrible end that will make older observers think back to 1975. I can vividly remember the pictures of the helicopter flights of the Americans, with which they then tried to rescue some of their South Vietnamese allies from besieged Saigon. You don't have to be a pessimist to fear that such scenes could be repeated in the Kabul of 2021." The return of the Taliban to power is now probably only a matter of time, he said.

 

A threat the world must live with

 

Winkler added: "Islamist terrorism has been a threat the world has to live with since 9/11. The transatlantic West is also challenged by the rise of the People's Republic of China as a world power and the authoritarian stabilisation of Russia under Putin. Other centres of power have been added. The power of the West has diminished considerably compared to the time around the turn of the millennium."

 

USA never seriously attempted nation-building

 

The historian says: "In Afghanistan, the USA has never seriously attempted nation-building. They left that to the Europeans and above all to the Germans, who were overtaxed by the task and certainly had many illusions about the transformability of a deeply traditional society. In the Iraq war, the USA under George W. Bush, Defence Secretary Donald Rumsfeld and the other neo-conservative actors indulged in wishful thinking that they could introduce democracy there by military means, as it were in the knapsacks of the GIs."

 

Important German contemporary historian

 

Heinrich August Winkler (82) is considered one of the most important German contemporary historians. He gave the keynote speech in the Bundestag on the 70th anniversary of the end of the war. In 2016, the Leipzig Book Fair honoured Winkler with the Prize for European Understanding. The award was for his four-volume opus magnum "History of the West", which he completed in 2015 with the volume "The Time of the Present". Winkler's study "Der lange Weg nach Westen" (2000) has long been a standard work. At the end of August, Beck-Verlag will publish "Deutungskämpfe. The Controversy over German History." Winkler taught as a professor in Freiburg from 1972 to 1991, then at the Humboldt University in Berlin. pm, ots, mei