Wer als Gewaltopfer Hilfe braucht, sollte besser nicht auf den Staat bauen: Fast jeden zweiten Antrag auf Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz haben die Ämter im vergangenen Jahr abgelehnt (46,6 Prozent).
- Das ist der schlechteste Wert seit mehr als 20 Jahren, wie aus der jährlichen Dokumentation des "Weißen Rings" hervorgeht, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.
- "Das bestätigt unsere schlimmsten Befürchtungen", sagt Professor Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des "Weißen Rings". "Die Bürokratie lässt Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind, immer öfter hilflos zurück."
- Eine Ablehnungsquote von 46,6 Prozent bedeutet allerdings nicht, dass mehr als die Hälfte der Opfer Hilfe bekommen hat:
- Nur 27,6 Prozent der Entschädigungsanträge wurden von den Ämtern genehmigt - auch das ist fast ein historischer Tiefstand. Einzig im Jahr 2019 lag die Anerkennungsquote noch niedriger.
- Die übrigen Antragsteller blieben ohne Hilfe: 25,8 Prozent der Anträge bekamen in den Behörden den Stempel "erledigt aus sonstigen Gründen".
- Sonstige Gründe können zum Beispiel der Tod des Antragstellenden, die Weitergabe des Falls in ein anderes Bundesland oder die Rücknahme des Antrags durch den Betroffenen sein.
Der Anteil der "Erledigungen aus sonstigen Gründen" ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Die 25,8 Prozent aus 2021 sind der dritthöchste Wert in der Statistik, 2020 und 2019 lag die Zahl sogar noch höher.
- "Ich bin fest davon überzeugt, dass sich dahinter zum großen Teil Fälle verbergen, in denen Gewaltopfer ihre Anträge zurückgezogen haben - weil sie durch die Bürokratie und die langen Verfahren zermürbt sind", sagt Ziercke.
- Warum Opfer ihre Anträge zurücknehmen, wird bislang bundesweit nicht einheitlich erfasst.
Mit dem 1976 verabschiedeten Opferentschädigungsgesetz (OEG) verpflichtet sich der Staat, Opfer von Gewalttaten, wie etwa Körperverletzung, häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch, zu unterstützen.
- Sie sollen vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen durch die Tat geschützt werden, der Staat soll laut Gesetz zum Beispiel Kosten für medizinische Behandlungen oder Rentenzahlungen übernehmen.
Wie das OEG in der Praxis umgesetzt wird, hat die Redaktion des "Weißen Rings" umfassend recherchiert und im Juni im Magazin "Forum Opferhilfe" und online unter www.forum-opferhilfe.de/oeg veröffentlicht. Die Ergebnisse zeichnen ein erschütterndes Bild, welches durch die Zahlen für das Jahr 2021 gestützt wird.
Die wichtigsten Erkenntnisse
- Viel zu wenige Gewaltopfer stellen einen Entschädigungsantrag. Das Gesetz ist weitgehend unbekannt.
- Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern bei den Anerkennungs- und Ablehnungsquoten.
- Gewaltopfer empfinden die Verwaltungsverfahren als unsensibel, belastend und vielfach sogar als retraumatisierend.
"2021 war ein sehr schlechtes Jahr für Opfer, die von Gewalt betroffen waren. Das OEG ist ein gutes Gesetz, aber der Staat hält sein Hilfsversprechen nicht. Die Unterstützung kommt nicht bei den Betroffenen an", sagt Ziercke.
Bezogen auf die Analyse der Zahlen, betont der Bundesvorsitzende: "Wer um die Schwachstellen weiß, kann auch etwas ändern." Vor allem brauche es jetzt einen Kulturwandel in den Ämtern: "Die
Behörden müssen auf Anerkennung prüfen, nicht auf Ablehnung. In Deutschland muss der Leitsatz gelten: Im Zweifel für das Opfer!" pm, ots
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